Politik/Ausland

Kroatien & Bosnien: Der Drang "nach oben"

Biljana ist sieben, lernt gerade Lesen und Schreiben, ihr Berufswunsch steht aber schon fest: Krankenschwester. „Da kriegt man sofort eine Arbeitserlaubnis für Österreich oder Deutschland“, sagt sie. Es sind die Sehnsuchtsorte für die Menschen auf dem Westbalkan.

2018, melden lokale Nachrichtenagenturen, seien bei österreichischen und deutschen Konsulaten in der Region 52.000 Anträge für ein Arbeitsvisum eingegangen, doppelt so viele wie noch 2015. Und anders als die Migranten aus dem Nahen oder Mittleren Osten, die zum Teil mit völlig irrealen Vorstellungen kommen, wissen die Menschen vom Balkan genau, was sie erwartet und vor allem, was von ihnen erwartet wird. Aus erster Hand.

Die Familie „oben“

So gut wie jede Familie hat „oben“ Verwandte oder Bekannte. Schon in den Siebzigerjahren jobbten viele Jugoslawen in der alten Bundesrepublik als Gastarbeiter. Damals indes war die Lebensplanung eine andere: Ärmel hochkrempeln, Geld verdienen, Rentenansprüche sichern und dann zurück. Das Ersparte genügte zu Hause für ein kleines Glück.

An Rückkehr denkt heute nur noch ein Teil der Kroaten. Die anderen wollen bleiben. Für immer.

„In Österreich“, sagt Omer Begic aus Tuzla, der seinen richtigen Namen nicht gedruckt sehen will. „habe ich mich zum ersten Mal als Mensch behandelt gefühlt“. Schon in Bosnien hatte sich der 35-jährige Maschinenschlosser auf mehrere Stellen in Österreich beworben. Fast alle potenziellen Arbeitgeber, sagt er, hätten geantwortet und Interesse signalisiert.

Seinen Verwandten im Großraum Innsbruck brauchte er daher nach der Einreise nicht lange auf der Tasche liegen. „Schon nach zwölf Tagen habe ich meinen Arbeitsvertrag mit einem mittelständischen Unternehmen unterschrieben.“

Lohn kommt pünktlich

Einen Vertrag mit geregeltem Urlaubsanspruch, den er schon nach drei Monaten nutzen konnte. Der Lohn werde pünktlich auf sein Konto überwiesen. Aus der Abrechnung sei ersichtlich, dass die Firma auch Beiträge an die Kranken-, Renten und Arbeitslosenversicherung abführt.

„Zu Hause“, sagt Begic, „bekam ich den größeren Teil des Lohns in bar und in einem Umschlag. Der Boss wollte Steuern wie Sozialabgaben sparen“. Begic hat sein Loblied auf Österreich vor Nachbarn und Bekannten schon so oft gesungen, dass Ehefrau Dzenana jedes Detail kennt. Trotzdem kann sie nicht genug davon bekommen.

Auch ihre Papiere, sagt sie, seien „in Bearbeitung“. Die gelernte Krankenschwester lässt sich derzeit zur Altenpflegerin fortbilden und besucht einen Deutschkurs.

„Unsere Kinder“, sagt sie mit glänzenden Augen, „werden in österreichische Schulen gehen. Wenn sie gut lernen, auf die Universität. Und wir müssen dafür nichts bezahlen.“

Alle Inhalte anzeigen

Trotzdem auswandern

Auswandern, so Wirtschaftsprofessor Gordan Radivojac aus Banja Luka, würden nicht nur Arbeitslose aus dem unterentwickelten bosnischen Bergland, sondern zunehmend solche, die einen relativ gut bezahlten Job haben. Sogar in der Westherzegowina, der mit Abstand wohlhabendsten Region des Landes, die von Tourismus, vor allem von den Pilgerfahrten zum Marienwallfahrtsort Medjugorje lebt, packen viele die Koffer.

Hauptgründe seien neben Perspektivlosigkeit schwerste Verstöße gegen das Arbeitsrecht, behauptet der Forscher. Auch im jüngsten Welt-Report zu moderner Sklaverei fand sich Bosnien – immerhin potenzieller EU-Beitrittskandidat – daher auf Rang 98 wieder. Fast auf Augenhöhe mit dem zentralasiatischen Tadschikistan.

Die Arbeitsgesetzgebung in Bosnien-Herzegowina, sagt Mersiha Besirovic von der Gewerkschaft Handel und Dienstleistungen, sei zwar der europäischen ähnlich, die Bestimmungen würden jedoch nicht eingehalten. Der Staat als größter Arbeitgeber gehe mit schlechtem Beispiel voran. Überstunden würden weder vergütet noch mit Freizeit abgegolten, Löhne oft monatelang nicht gezahlt.

60-Stunden-Woche

In der Privatwirtschaft sei es noch schlimmer. Die 60-Stunden-Arbeitswoche sei die Regel und nicht die Ausnahme, Auflehnung ein Entlassungsgrund, längere Krankheit ebenso.

Kleine Firmen würden sogar gesetzlich vorgeschriebene Standards für Mindestlohn und Mindesturlaub ignorieren, die Chefs sich an das Motto von Sonnenkönig Ludwig XVI. halten: Die Firma, das bin ich.

Ein Viertel weniger

Wer für den österreichischen oder deutschen Arbeitsmarkt zu alt ist, versucht es im benachbarten Kroatien. So wie der Fliesenleger Enver, 59. Kroatische Handwerker gehen mit einem Viertel dessen nach Hause, was Kollegen in Österreich verdienen. Obwohl die Lebenskosten in der Küstenregion fast die gleichen sind. Ihren bosnischen Gastarbeitern zahlen die Chefs noch ein bisschen weniger.

Vier Wochen Urlaub im Jahr hat Enver. Dafür wird auch am Samstag gearbeitet. Bis drei Uhr nachmittags. Die muslimischen Feste kann Enver mit seiner Familie nur dann feiern, wenn die Auftragslage es zulässt. Beim viertägigen Opferfest in diesem Sommer musste er schon am dritten Tag gegen Mittag fort. Er sagt es ohne Vorwurf.