Krisen weniger aussitzen, mehr klare Kante: Was die deutsche Ampelregierung für Europa will
Wer in Deutschland regiert – das hat für ganz Europa fulminante Bedeutung. Umso überraschter nahm man in Brüssel wahr, welch ehrgeizige Pläne die sozialdemokratisch-grün-liberale Ampelregierung im Koalitionsvertrag präsentierte: Da ist von einem Ziel eines „föderalen europäischen Bundesstaates“ die Rede.
Unter den 27 EU-Staaten ist das nicht durchzusetzen. Auf den Boden gebracht steckt hinter diesem hochtrabenden Ziel also etwas anderes: „Eine viel mehr auf Europa ausgerichtete Politik“, schildert Reinhard Bütikofer. Der grüne EU-Abgeordnete, der bei den Koalitionsgesprächen zur Außenpolitik mitverhandelt hat, verspricht eine „bessere Koordination mit den europäischen Partnern“. Vor allem mit den osteuropäischen Ländern sucht die Regierung in Berlin eine bessere Zusammenarbeit.
Der erste Lackmustest dafür wird sich bald in Sachen Nordstream 2 zeigen. Die umstrittene Ostsee-Pipeline werde nur in Betrieb gehen, „wenn sie den europäische Gesetzen entspricht“, sagt Bütikofer. Vorerst prüft die deutsche Bundesnetzagentur, dann muss auch noch die EU-Kommission ihre Zusage geben. Vor allem Polen und die baltischen Staaten hatten sich immer vehement gegen die Pipeline ausgesprochen, während die Regierung von Kanzlerin Merkel den Bau nicht stoppen wollte.
Generell will die Ampelkoalition für Europa einen härteren Kurs gegenüber Russland und China einfordern. Probleme mit Moskau und Peking sollen nicht mehr nach der Methode Merkel ausgesessen, sondern direkt angepackt werden.
Wobei Bütikofer zu bedenken gibt: „Ein neuer deutscher Kanzler hat in der europäischen Außenpolitik nie so viel Gewicht wie einer, der schon lange im Amt ist. Das war auch bei Merkel am Anfang nicht anders.“
Rechtsstaatssünder
Klare Kante aber will die neue Führung in Berlin bei den Rechtsstaatssündern in der EU zeigen. Dabei hat Berlin einen Hebel in der Hand: Polen hat Anspruch auf 24 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds, Ungarn auf 7 Milliarden. Die EU-Kommission braucht für die Freigabe der Gelder die Zustimmung der EU-Regierungen.
Laut Koalitionsvertrag aber will die Ampelregierung nur zustimmen, „wenn Voraussetzungen wie eine unabhängige Justiz gesichert sind“. Ändert sich also die Lage der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen nicht, könnte die deutsche Regierung die Auszahlung der Corona-Gelder verhindern.
EU-Erweiterung: Keine Priorität
Eher wenig Bedeutung schenkt die neue Regierung der EU-Erweiterung in Richtung Westbalkan-Länder. „Das gehört nicht zum ambitioniertesten Teil unseres Koalitionsvertrages“, gibt Bütikofer gegenüber dem KURIER zu.
Auch punkto EU-Schuldenunion sind vom neuen Team in Berlin keine Revolutionen zu erwarten. Hier bleibt der Koalitionsvertrag vage. SP und Grüne pochen auf mehr staatliche Investitionen, die FDP und ihr Finanzminister Lindner warnen vor einer Aufweichung des Stabilitätspaktes. Aber dass in Geldfragen auch eine rot-grün-dominierte Regierung keine Volten schlagen wird, hatte Olaf Scholz schon im Wahlkampf angekündigt: „Ein deutscher Finanzminister bleibt ein deutscher Finanzminister.“