Selenskij spricht von "russischem Terror"
Tag 129 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Die südukrainische Stadt Mykolajiw ist am Samstag von schweren Explosionen erschüttert worden. Kurz vor den Detonationen ertönten Alarmsirenen in der Region nahe der Hafenstadt Odessa. Bürgermeister Olexander Sjenkewytsch rief die Bewohner über den Messengerdienst Telegram dazu auf, in den Schutzräumen zu bleiben. Die Ursache der Detonationen war zunächst nicht klar. Russland hatte zuvor seine Angriffe in der Ostukraine auf breiter Front fortgesetzt.
Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, das russische Militär habe fünf Militärkommandoposten in der Region Mykolajiw und im Donbass mit Hochpräzisionswaffen zerstört. Auch drei Lagereinrichtungen in der südlichen Region Saporischschja seien getroffen worden, ebenso wie eine Waffen- und Ausrüstungsbasis in einer Traktorfabrik im nordöstlichen Charkiw. Die Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Im Osten der Ukraine hat Russland seine Angriffe auf breiter Front fortgesetzt. Das Verteidigungsministerium in Moskau behauptete, bei Luftangriffen seien mehrere ukrainische Waffenlager zerstört worden. Der ukrainische Generalstab in Kiew berichtete, in der Umgebung von Charkiw - der zweitgrößten Stadt des Landes - versuche die russische Armee, mit Unterstützung der Artillerie verlorene Positionen zurückzuerobern. Die Angaben aus den Kampfgebieten lassen sich kaum prüfen.
Die pro-russischen Kämpfer in der Ukraine haben nach eigenen Angaben die umkämpfte Stadt Lyssytschansk im Osten des Landes vollständig umzingelt. Zusammen mit russischen Truppen seien "heute die letzten strategischen Hügel" erobert worden, sagte ein Vertreter der Separatisten am Samstag der russischen Nachrichtenagentur Tass. "Damit können wir vermelden, dass Lyssytschansk vollständig eingekreist ist." Die ukrainische Armee wies eine vollständige Umzingelung von Lyssytschansk zurück. Es gebe zwar heftige Kämpfe um die in der Region Luhansk gelegene Stadt, sagte ein ukrainischer Armeesprecher am Samstag im Fernsehen. Lyssytschansk sei "aber nicht eingekesselt und weiter unter Kontrolle der ukrainischen Armee".
Mit scharfen Worten hat die Ukraine einen russischen Raketenangriff mit mindestens 21 Toten und 39 Verletzten auf ein Wohnhaus im südukrainischen Gebiet Odessa verurteilt. Präsident Wolodimir Selenskij sprach von einem "absichtlichen, gezielten russischen Terror". In dem Haus seien weder Waffen noch militärische Ausrüstung versteckt gewesen - "wie russische Propagandisten und Beamte immer über solche Angriffe erzählen", sagte er am Freitag in einer Videobotschaft.
Der Einschlag der drei Raketen sei kein Versehen gewesen. Der Samstag ist für die Ukraine der 129. Kriegstag. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warf Russland einen Krieg gegen Zivilisten vor. "Ich fordere unsere Partner dringend auf, der Ukraine so schnell wie möglich moderne Raketenabwehrsysteme zur Verfügung zu stellen. Helft uns, Leben zu retten und diesem Krieg ein Ende zu setzen", teilte Kuleba per Twitter mit.
USA sagen weitere Militärhilfen zu
Die US-Regierung sagte der Ukraine weitere Militärhilfen zur Verteidigung im russischen Angriffskrieg zu. Mit einem Paket in Höhe von 820 Millionen US-Dollar (etwa 787 Millionen Euro) sollen dem Land unter anderem weitere Munition für das Raketenwerfersystem vom Typ Himars, zwei Boden-Luft-Raketenabwehrsysteme mit der Bezeichnung Nasams, Artilleriemunition und Radare zur Artillerieabwehr bereitgestellt werden, wie das Pentagon mitteilte. Ein großer Teil der neuen Hilfen kommt nicht aus Beständen der USA, sondern aus einer Vereinbarung mit der Industrie. Die USA haben der Ukraine seit Kriegsbeginn Ende Februar damit nach eigenen Angaben Waffen und Ausrüstung im Wert von fast sieben Milliarden US-Dollar (6,73 Milliarden Euro) zugesagt oder bereits geliefert.
Phosphorbomben auf Schlangeninsel?
Die Ukraine wirft Russland zudem den Abwurf von Phosphorbomben auf die Schlangeninsel im Schwarzen Meer vor. Mit Kampfflugzeugen des Typs Su-30 seien von der von Russland 2014 annektierten Halbinsel Krim zwei Angriffe mit Phosphorbomben geflogen worden, teilte der Oberkommandierende der ukrainischen Armee, Walerij Saluschnyj, mit. Dazu präsentierte der 48-Jährige ein Video, das die Bombardierung belegen soll. Tags zuvor war das russische Militär von der Insel abgezogen. Moskau hatte das als "Geste des guten Willens" dargestellt. Kiew betrachtet den Abzug von dem am zweiten Kriegstag durch die Russen eroberten Eiland als Sieg infolge häufiger Angriffe.
Auch die US-Regierung sieht die Rückeroberung der Schlangeninsel als Erfolg für das ukrainische Militär an. Die Behauptung Russlands, der Abzug sei eine Geste des guten Willens gewesen, sei unglaubwürdig, sagte ein ranghoher Vertreter des US-Verteidigungsministeriums am Freitag. "Die Ukrainer haben es den Russen sehr schwer gemacht, ihre Operationen dort aufrechtzuerhalten", erklärte er dem Pentagon zufolge. Das sei der Grund, warum die Russen die Insel verlassen hätten.
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Beschuss im Süden und Osten
In der Ost- und in der Südukraine sind Stellungen der ukrainischen Armee entlang der ganzen Frontlinie von russischen Truppen mit Artillerie beschossen worden. Dutzende Orte in den Gebieten Charkiw, Donezk, Luhansk, Saporischschja, Mykolajiw und Cherson wurden am Freitag in dem bei Facebook veröffentlichten Bericht des ukrainischen Generalstabs aufgezählt. Vereinzelt seien auch Angriffe von Flugzeugen und Hubschraubern geflogen worden, hieß es. Ukrainische Einheiten hätten einen russischen Angriff bei einem Gelatine-Werk bei der Industriestadt Lyssytschansk im Gebiet Luhansk abgewehrt. Die Berichte können nicht unabhängig geprüft werden.
Norwegen sichert Unterstützung zu
Der norwegische Regierungschef Jonas Gahr Støre versprach Selenskij bei einem Treffen in Kiew weitere Unterstützung in Höhe von einer Milliarde Euro verteilt auf 2022 und 2023. Die Gelder sollten in humanitäre Hilfe, Wiederaufbau aber auch Waffen fließen. Damit solle der "Kampf der Ukrainer für Freiheit" unterstützt werden, sagte der Norweger. Støre war direkt vom NATO-Gipfel in Madrid in die Ukraine gereist.
Kiew gewinnt "Suppenkrieg" gegen Moskau
Die UN-Kulturorganisation Unesco hat die ukrainische Kochkultur der Rote-Beete-Suppe Borschtsch auf ihre Liste des zu schützenden Kulturerbes gesetzt. Grund sei eine Bedrohung durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew zeigte sich hocherfreut. "Der Sieg im Krieg um den Borschtsch ist unser!", schrieb Kulturminister Olexander Tkatschenko im Nachrichtendienst Telegram. Die Suppe sei nun "offiziell ukrainisch". Die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa reagierte gereizt. "Was kommt als Nächstes? Anerkennung von Schweinefleisch als "ukrainisches Nationalprodukt"?" Andere russische Vertreter kommentierten, dass die Ukraine durch die Entscheidung kein ausschließliches Recht auf die Suppe bekommen habe. Borschtsch-Varianten werden in vielen Ländern Osteuropas zubereitet.