Konflikt eskaliert: Äthiopien am Rande des Abgrunds
Von Walter Friedl
"Bewaffnete Konflikte, zivile Unruhen, ..., Kriminalität und die Gefahr von Terrorismus und Entführungen."
So begründen die USA ihre absolute Reisewarnung für Äthiopien – für ein Land, in dem ein Friedensnobelpreisträger das Sagen hat, der aber seit einem Jahr auf dem Kriegspfad ist gegen das Tigray-Volk und die gleichnamige Provinz.
Doch nach anfänglichen militärischen Erfolgen für Einheiten des äthiopischen Premiers Abiy Ahmet (unter tatkräftiger Mithilfe der benachbarten eritreischen Streitkräfte) hat sich das Blatt gewendet. Die kampferprobte "Volksbefreiungsfront von Tigray" (TPLF) verbündete sich zuletzt mit einer Miliz der größten Volksgruppe des Landes, der Ethnie der Oromo. Diese hatte sich enttäuscht vom Regierungschef abgewandt – weil sie sich von Abiy, dessen Vater Oromo war, mehr Privilegien für ihre Ethnie erhofft hatten.
Jüngst nahm der Kampfverband in der Provinz Amhara zwei wichtige Städte ein, mit deren Eroberung ist der Weg frei in die Hauptstadt Addis Abeba und damit nach Dschibuti. Der dortige Hafen ist Äthiopiens Umschlagplatz für Im- und Export. In der Vier-Millionen-Stadt Addis Abeba wächst die Angst vor einem Angriff: Die Bewohner wurden aufgefordert, ihre Stadt zu verteidigen. Angehörige des Volkes der Tigriner wurden verhaftet, der Ausnahmezustand wurde verhängt.
Angst vor Zerbrechen
Da sich der Konflikt bereits im August auch auf die Nachbarprovinzen Afar und eben Amhara ausgebreitet hat, befürchten Experten, dass der Vielvölkerstaat Äthiopien mit seinen rund 115 Millionen Einwohnern und mehr als 80 Ethnien auseinanderbrechen könnte – mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region Ostafrika.
Dabei war Abiy Ahmet als der große Versöhner und Reformer angetreten, als er 2018 an die Macht kam. Wegen seiner Liberalisierung nach innen und seiner Aussöhnung mit dem Erzfeind Eritrea nach außen wurde er schon im Jahr darauf mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Doch weil die Tigriner im Vorjahr einer Wahlverschiebung (offiziell wegen Corona) nicht zugestimmt und genau vor einem Jahr eine Militärbasis besetzt hatten, ließ Abiy die Offensive gegen die abtrünnige Provinz starten.
Alter Konflikt
Wobei der Konflikt ein alter und komplexer ist: Die Tigriner – sie stellen bloß sechs Prozent der Bevölkerung – hatten das Land 25 Jahre lang mit eiserner Faust beherrscht, ehe sie letztlich unter Abiy von den Hebeln der Macht verdrängt wurden.
Von Anfang an sei es bei den bewaffneten Auseinandersetzungen in Tigray zu massiven Menschenrechtsverletzungen gekommen, die großteils auf das Konto der Regierungstruppen gegangen seien, bestätigte die UNO. Doch auch die TPLF habe sich vor allem zuletzt derartige Verbrechen zuschulden kommen lassen.
In Folge des Kriegsgeschehens wurden Tausende Menschen getötet, 400.000 Menschen müssen aktuelle Hunger leiden, 2,5 Millionen Tigriner wurden vertrieben.