Parlamentswahlen in Frankreich: Ein gespaltenes Land schreitet zur finalen Wahlrunde
Von Simone Weiler
Der Platz der Republik ist ein Ort der Hoffnung, der idealistischen Kämpfe, ja, der Träume. Unter der riesigen Bronzestatue der Nationalfigur Marianne finden die meisten Pariser Demonstrationen statt. Nach den Terroranschlägen vom November 2015 versammelten sich die erschütterten Stadtbewohner, um sich geeint gegen den Terror zu zeigen.
Unmittelbar vor der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen am Sonntag sind hier mehrere Tausend Menschen zusammengekommen, um bei einer Demo gegen Rechts ein Signal der Geschlossenheit auszusenden. Auf der Bühne wechseln sich Musikgruppen, Aktivisten aus dem linken Spektrum und Prominente mit kurzen Auftritten ab.
Auf der Leinwand wird ein Video der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux eingeblendet, die dazu aufruft, „uns alle gemeinsam zu vereinen, anstatt uns spalten zu lassen“. Doch die Menschen im Publikum wirken ratlos.
Die Stimmung ist gedrückt angesichts der Erfolgsaussichten für den rechtsextremen Rassemblement National (RN). Sollte es für eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung reichen, würde die Partei um die Frontfrau Marine Le Pen demnächst die Regierung stellen, mit dem 28-jährigen Parteichef Jordan Bardella als Premierminister.
Rund ein Drittel der Französinnen und Franzosen begrüßen diese Perspektive. Fast alle anderen lehnen sie hingegen ab. „Uns schockieren diese Ergebnisse zutiefst“, sagen die Studentinnen Lou, Lilia und Neya, die zur Demo gekommen sind.
„Das Problem ist, dass viele sich nicht informieren, sie sehen ein paar Videos von Bardella auf TikTok – er sieht gut aus und kann reden, das reicht ihnen“, sagt Neya, die ein Nasen-Piercing trägt. „Vielleicht sind wir ja toleranter, weil wir aus Paris kommen und sehen, dass das Zusammenleben in einer bunt gemischten Gesellschaft gut funktioniert.“
In Frankreich findet heute, Sonntag, die zweite Runde der vorgezogenen Parlamentswahl begonnen. Bei dem Votum zeichnete sich ein Sieg der rechtspopulistischen Partei Rassemblement National (RN) ab, die bereits in der ersten Runde stärkste Kraft wurde. Ob der RN die absolute Mehrheit erreichen wird, gilt jedoch als ungewiss. Mit ersten Hochrechnungen wird am Abend gegen 20.00 Uhr gerechnet.
Sollte der RN keine absolute Mehrheit bekommen, zeichnet sich die Bildung von drei Blöcken in der Nationalversammlung ab, welche die Regierung lähmen und das Land in eine politische Krise stürzen könnten.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte die Neuwahl nach dem Triumph des RN bei der Europawahl am 9. Juni ausgerufen.
Bereits am Samstag hatten die Franzosen in den französischen Überseegebieten Saint-Pierre und Miquelon vor der Ostküste Kanadas ihre Stimme abgegeben. Auch in den Karibikgebieten Saint-Barthélemy, Saint-Martin, Guadeloupe, Martinique und Guyana sowie in Französisch-Polynesien wurde schon am Samstag gewählt.
Nicht nur Hauptstädter
Die Rechtsextremen haben inzwischen alle Regionen des Landes erobert, aber sie tun sich schwer, in Paris Fuß zu fassen.
Bei der ersten Runde der Parlamentswahlen vor einer Woche hat der RN hier 10,7 Prozent der Stimmen erzielt; das sind fast sieben Prozentpunkte mehr als noch 2022, aber deutlich weniger als überall sonst in Frankreich. In 297 der insgesamt 577 Wahlkreise lag die Partei vorne, aber keiner davon liegt im Ballungsraum der Capitale. Die Stadt-Land-Spaltung ist offensichtlich.
Dabei stehen nicht nur gebürtige Pariser auf dem Platz der Republik. Der Architekt Mathieu-Ho Simonpoli lebt in Avignon, sein Beruf bringt ihn regelmäßig in die Hauptstadt. Mit Freunden hat er sich zur Demo verabredet. „Ich finde es schlimm, dass eine rassistische, homophobe, faschistische Partei bald an die Macht kommen könnte“, sagt er.
"Kein Fascho"
In den vergangenen Tagen gab es Enthüllungen zu mehreren RN-Kandidaten. Aber nur Ludivine Daoudi, von der ein Foto mit Nazi-Kappe auftauchte, musste sich zurückziehen. Nicht aber Jean-Yves Le Boulanger, der in einem Interview sagte, er sei „kein Fascho“, denn er habe sich bei einem Motorrad-Treffen von einem schwarzen Pfarrer segnen lassen: „Und ich habe ihn nicht mit meinem Motorrad überfahren.“
Ein Tiefpunkt eines harten Wahlkampfs. Mit seiner überraschenden Auflösung der Nationalversammlung am Abend der EU-Wahl hat Präsident Emmanuel Macron das Land und seine Partei, die bislang eine relative Mehrheit im Parlament hatte, in Turbulenzen gestürzt. Jetzt liegt sie hinter den Rechtsextremen und dem Linksbündnis „Neue Volksfront“ auf Platz drei.
In mehr als 200 Wahlkreisen zogen sich die Drittplatzierten der Linken oder der Mitte zurück, um eine Brandmauer gegen die RN-Politiker zu bilden und deren Chancen zu schmälern. Das könnte eine absolute Mehrheit verhindern – doch wie soll dann regiert werden? Es herrscht große Unsicherheit.
Nostalgie/Weltoffenheit
Hätte der Sommer eigentlich unter dem Zeichen der Olympischen Spiele in Paris stehen sollen, so dominieren ihn nun bedrückende Debatten über die künftige Richtung des Landes.
Der Soziologe François Dubet, emeritierter Professor an der Universität Bordeaux, nimmt ein „politisch und sozial extrem schwieriges Klima“ wahr: „Es stehen sich zwei Frankreichs gegenüber, wobei es sich nicht mehr um die traditionelle Spaltung zwischen links und rechts handelt.“
Im Zuge der Globalisierung und gebe es hier „die liberalen, gut ausgebildeten Kosmopoliten in den Städten“ – und dort „all jene, die sich als Verlierer dieser Entwicklung sehen und sich von Nostalgie oder Abstiegsängsten leiten lassen“.
Die Rechtsextremen konnten jene für sich gewinnen, die sich von den Politikern verachtet fühlten. „Der RN bringt ihnen Wertschätzung entgegen, während Macron, der brillant, jung und attraktiv ist, den geballten Zorn auf sich zieht.“
Alle gegen rechts?
Diese Entwicklung sei von den Niederlanden bis Spanien zu beobachten, sie führte in Großbritannien zum Brexit und in den USA zur Wahl Donald Trumps. „Um eine Dauerkrise zu verhindern, gilt es, Vereinbarungen über Parteigrenzen hinaus zu schließen“, so Dubet. Optimistisch sei er nicht: „In Frankreich werden diejenigen als Verräter hingestellt, die Kompromisse mit anderen Fraktionen eingehen.“
Auf dem Platz der Republik lautet die Losung am Samstagabend: alle gegen rechts. Ob eine solche Allianz, die nur auf Ablehnung der Rechten baut, bestehen kann, zeigt sich am Sonntag.
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