Missbrauchsopfer Pelicot: "Ein Vergewaltiger kann auch in der Familie sein"
aus Avignon Simone Weiler
Gisèle Pelicot hat etwas zu sagen. Nach Wochen, in denen sie morgens das Gerichtsgebäude in Avignon betrat und es abends verließ, um stundenlang die Anhörungen von Zeugen und Angeklagten zu verfolgen, kam an diesem Mittwoch erneut sie als Zivilklägerin und Opfer zu Wort.
Die 71-Jährige sprach über ihre Fassungslosigkeit angesichts der Taten ihres Ex-Mannes Dominique, mit dem sie mehr als 50 Jahre verheiratet war: "Ich versuche zu verstehen, wie dieser Monsieur, der für mich der perfekte Mann war, mich so hintergehen konnte." Mindestens neun Jahre lang lud Dominique Pelicot über eine spezielle Internetseite regelmäßig Männer in das Haus im südfranzösischen Örtchen Mazan ein, wo er und seine Frau die Pension verbrachten. Dort vergingen sie sich gemeinsam an ihr. Die Taten, die er filmte, kamen nur durch Zufall ans Licht. Nicht alle Männer konnte die Polizei ausfindig machen.
Der Fall ist einer der schrecklichsten seiner Art: Gisèle Pelicots Ex-Mann Dominique Pelicot hat seine Frau zwischen 2011 und 2020 immer wieder mit Schlafmitteln betäubt, ließ sie von Männern, die Dominique Pelicot in Internetforen kontaktiert hatte, vergewaltigen und filmte den Missbrauch. Mindestens 92 solcher Fälle sind dokumentiert. Die Polizei wurde zufällig auf ihn aufmerksam, als er in einem Supermarkt Frauen unter den Rock gefilmt hatte. Bei den Ermittlungen fand man die Videos. Der Prozess läuft seit September und geht bis Mitte Dezember. Den Angeklagten drohen bis zu 20 Jahre Haft.
Insgesamt 51 Angeklagte stehen nun vor Gericht. "Ich habe um die 100 Vergewaltigungen erlitten und es war eine schwere Entscheidung, diese Videos öffentlich zeigen zu lassen", erklärte Gisèle Pelicot ihren Entschluss. "Aber das ermöglicht, die Wahrheit zu erfahren."
Täter sind "Normalos" – und sehen sich als Opfer
Ein Vergewaltiger lauere nicht unbedingt spätabends auf einem verlassenen Parkplatz auf sein Opfer, so ihre Botschaft: "Er kann auch in der Familie, im Freundeskreis sein." Die Angeklagten gelten als "Normalos" jeden Alters, aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Viele haben eine Familie und gingen einem geregelten Beruf nach, sind Informatiker oder Fernfahrer.
35 der 51 Angeklagten weisen den Vorwurf der Vergewaltigung zurück. Sie bejahen zwar die Frage, ob sie die Tatsachen anerkennen – schließlich existieren Aufnahmen. Aber es habe sich nicht um die Absicht gehandelt, versichern viele. "Ich bin doch kein Vergewaltiger, das ist zu schwer für mich zu tragen", sagte Husamettin D. Einige rechtfertigen sich, sie hätten das Einverständnis des Ehemannes gehabt. Sie hätten geglaubt, es handele sich um ein Sex-Spiel, die Frau werde gleich aufwachen – obwohl sie völlig leblos dalag oder laut schnarchte.
Fast alle sehen sich selbst als Opfer: Sie seien in die Falle eines Perversen gegangen, hätten Angst vor Dominique Pelicot gehabt. "Ich wollte ihn nicht frustrieren, also spielte ich den guten Schüler“, sagte der Pfleger Redouan E.
Kein Verstecken des Opfers
Es besteht ein scharfer Kontrast zwischen den Angeklagten, die allerlei Ausflüchte suchen und sich meist hinter weiten Jacken, Kapuzen und Gesichtsmasken verstecken – und Gisèle Pelicot, die sich trotz der Erniedrigungen offen zeigt, klar und entschieden spricht. Ja, betont sie an diesem Mittwoch, es sei unerträglich gewesen, als einer der Angeklagten sagte, wäre er ein Vergewaltiger, hätte er sich doch eine junge, hübsche Frau ausgesucht, nicht eine 57-Jährige – tatsächlich war sie 68, als er sie vergewaltigte. Gegenüber dem Argument einer Verteidigerin, manche Männer seien nicht brutal, sondern zärtlich vorgegangen, sagt Gisèle Pelicot: "Wo ist der Unterschied? Sie haben mich beschmutzt."
Sie bereue die Entscheidung, sich gegen eine Verhandlung hinter verschlossenen Türen zu stellen, nicht – damit auch andere Opfer es künftig schaffen, ihren Peinigern entgegenzutreten. "Es ist nicht an uns, Schande zu empfinden." Was sie antreibe, sei nicht Mut, "sondern ein fester Wille und die Entschlossenheit, diese Gesellschaft voranzubringen." Deshalb komme sie täglich zum Prozess – außer montags, wenn sie in Psychotherapie sei.
Ikone gegen sexuelle Gewalt
Mit ihrer aufrechten Haltung wurde die 71-Jährige in Frankreich längst zu einer Ikone im Kampf gegen sexuelle Gewalt. Erscheint sie am Gericht, brennt jedes Mal Applaus auf. Die Pensionistin nickt dann den klatschenden Menschen lächelnd zu, faltet die Hände zum Dank. Manche nähern sich ihr, um sie zu umarmen, ein paar Worte mit ihr zu wechseln oder ihr einen Blumenstrauß in die Hand zu drücken. Im Pariser Vorort Gentilly ziert seit einigen Wochen eine Freske eine Wand, die ein Abbild von ihr mit dem charakteristischen rötlichen Pagenkopf und ihrer Sonnenbrille, die sie anfangs trug und inzwischen abgelegt hat, zeigt; daneben der Satz: "Damit die Schande die Seite wechselt."
Es klingt wie ein Slogan, der so oft wiederholt werden muss, bis er endlich Eingang in die Köpfe findet.
Sind Sie Opfer einer Straftat geworden? Informationen, kostenlose Beratung und Unterstützung erhalten Sie bei der Verbrechensopferhilfe WEISSER RING. Telefonberatung unter: 0800 112 112
Wenn Gewalt oder Missbrauch einen Ihrer Angehörigen, Bekannten, eine Schülerin oder einen Schüler betreffen, dann wenden Sie sich an die Beratungsstelle Die möwe. Telefonberatung unter: 01 532 15 15
Wenn Sie als Frau von Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich an die Frauenhelpline. Die Beratungs- und Hilfsangebote sind kostenlos und das Team rund um die Uhr erreichbar. Telefonberatung unter: 0800 222 555