Die EU holt jetzt ihre Werkzeuge gegen Rechtsstaatssünder hervor
Jubel im EU-Parlament in Straßburg, Empörung in Warschau und Budapest: Seit Jahren streitet sich die EU mit Ungarn und Polen darüber, wie deren Regierungen Stück um Stück die Unabhängigkeit ihrer Justizsysteme abbauen. Jetzt hat Brüssel ein massives Werkzeug erhalten, um dagegen vorzugehen: Die EU-Kommission darf künftig Gelder aus den EU-Töpfen zurückhalten, wenn ein Mitgliedsstaat gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstößt. Denn diese gehören zu den wichtigsten Grundlagen der Europäischen Union.
Grundlage für die Nutzung des neuen Werkzeuges ist ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Luxemburg. Die Richter gaben am Mittwoch grünes Licht für jenen „Rechtsstaats-Mechanismus“, der es Brüssel erlaubt, Gelder für die Rechtsstaatssünder einzubehalten.
Dabei geht es um sehr viel Geld: Milliarden Euro aus dem EU-Budget können für Polen und Ungarn blockiert werden. Am schmerzlichsten aber wäre das Ausbleiben der dringend erhofften Mittel aus dem EU-Wiederaufbaufonds: Polen würden 23 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuschüssen entgehen. Für Ungarn wären es an die sieben Milliarden Euro.
„Jahrelang hat die EU-Kommission, die Hüterin der EU-Verträge, dabei zugesehen, wie in Ungarn und Polen die unabhängigen Justizsysteme abmontiert werden“, sagt die liberale ungarische EU-Abgeordnete Katalin Cseh zum KURIER, „das hört jetzt auf“. Ihre Hoffnung: Das neue Werkzeug des Rechtsstaats-Mechanismus setzt da an, wo bisher alle anderen Strafmaßnahmen versagten: Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen liefen weitestgehend ins Leere, unabhängige Richter wurden dennoch durch Regierungs-gefügigere ersetzt.
Ampeln auf Rot
Im Vorjahr trieb Polen schließlich den Konflikt mit der EU auf die Spitze: Die eigene Verfassung habe Vorrang vor dem gemeinsamen EU-Recht, hieß es da, und EuGH-Urteile müssten nicht alle umgesetzt werden.
Doch im EU-Parlament hatten da schon längst alle Ampeln auf Rot geblinkt: Die EU-Kommission müsse endlich scharf gegen die Rechtsstaatssünder vorgehen, drängten die Abgeordneten und klagten die Kommission wegen „Untätigkeit“.
Groß war daher gestern die Begeisterung bei der Mehrheit der Abgeordneten über das EuGH-Urteil. Doch sie forderten auch: „Unverzüglich“ müsse die Kommission ihr Werkzeug jetzt nutzen.
Jährliche Mittel
12 Mrd. Euro erhält Polen – größter EU-Nettoempfänger – jedes Jahr aus Brüssel. Hier kann die EU massiv den Rotstift ansetzen
520Euro
erhält jeder Ungar pro Jahr aus EU-Budgetmitteln (netto absolut: 5 Mrd.)
EU-Corona-Fonds
23 Mrd. für Polen und 7 für Ungarn sind an nicht rückzahlbaren Zuschüssen vorgesehen. Sie werden vorerst nicht ausbezahlt
Wahlen in Ungarn
Schnell geht jetzt jedoch einmal gar nichts: Selbst im allergünstigsten Fall könnten erste EU-Haushaltsmittel für Ungarn und Polen gegen Jahresende einbehalten werden. Zudem will die Kommission abwarten: Im April hat Ungarn Wahlen zu schlagen – und Brüssel will Premier Orbán keine neue Munition gegen die EU liefern. Erst am Wochenende hatte der ungarische Regierungschef gegen die „Rechtsstaats-Dschihadisten in Brüssel“ gewettert.
In Polen ärgerte sich Vize-Justizminister Marcin Romanowski über den EuGH: Das Urteil sei eine „Lizenz für Eurokraten zur Erpressung souveräner Staaten“. Ein Regierungssprecher reagierte hingegen verhaltener und sprach nur von einer „gefährlichen Entwicklung“. In den vergangenen Wochen sandte die Führung in Warschau angesichts der drohenden Milliardenstrafen bereits vorsichtige Signale der Annäherung an Brüssel. Aus Budapest war dagegen nichts zu hören.