"Die Große Koalition skalpiert die SPD"
Viel hatte sie nicht mehr zu sagen. Als Andrea Nahles am Vormittag das Willy-Brandt-Haus verließ, erklärte sie nur kurz, dass sie sich soeben vom Parteivorstand verabschiedet hat. „Machen Sie’s gut“, sagte sie zu den wartenden Journalisten und war weg. Nach ihrem Rückzug sucht die SPD nun nach einer neuer Führung: „Scheißjob gesucht“ titelte am Montag die taz. Das klingt zugespitzt, hat aber einen wahren Kern: Egal, wer die Sozialdemokraten künftig anführt, ist nicht zu beneiden. Die einst stolze Volkspartei, die früher über 40 Prozent in Bund und Ländern erreichte, fällt mit jeder Wahlniederlage weiter zurück– bald ins Bodenlose?
Darüber will der Politologe und SPD-Kenner Gero Neugebauer nicht spekulieren. Den Ursprung allen Übels glaubt er aber zu kennen: Es ist der Eintritt in die Große Koalition 2005. Damals hat die SPD ihren Machtanspruch aufgegeben. Anstatt sich weiter als Alternative zur Union im Wettbewerb zu positionieren, wurde sie zu deren Gehilfen - so die Diagnose.
Von Merkel entkernt?
Zudem hat sie aus seiner Sicht auf falsche Themen gesetzt, die die Wähler teils nicht interessieren, bzw. ihnen nicht kommuniziert, warum diese für die Gesellschaft relevant sind. Und wenn sie öffentlichkeitswirksam interessant waren, wie der Mindestlohn, „hat ihn die Kanzlerin für sich in Anspruch genommen“, erklärt er im Gespräch mit dem KURIER.
Dass Angela Merkel kürzlich in Harvard die Ehrendoktorwürde und Lob für die Öffnung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder den Mindestlohn bekam, irritierte Genossen wie den Parteilinken Ralf Stegner. Merkel sei für Dinge gerühmt worden, die die SPD gegen ihren Willen durchgesetzt hat und die die CDU an ihr kritisierte, stellte er auf Twitter fest.
Die Theorie, dass Merkel die SPD entkernt und mit deren Erfolgen hausiert, teilen nicht alle. Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, der mit der Kanzlerin weder verwandt noch verschwägert ist, sieht die SPD in der Verantwortung: „Die CDU ist mit Merkel in die Mitte gerückt, dadurch wurde der politische Raum für die SPD enger, aber sie hätte stärker nach links ausgreifen können“. Zum Beispiel in der klassischen Verteilungspolitik bei Steuerfragen. „Die SPD ist aber starr geblieben und hat nicht auf den Kurs der CDU reagiert.“ Nur auf der kulturellen Achse, so Merkel, hat sich die SPD kosmopolitisch positioniert, etwa bei liberalen Werten und Fragen zu Migration und Grenzöffnung. „Das hat traditionelle Wähler verschreckt.“
Dennoch soll sie nicht von ihren Gesellschaftsperspektiven abrücken oder die Migrationspolitik der AfD kopieren. „Sonst würden sie unglaubwürdig erscheinen und noch mehr an die Grünen verlieren.“ Der Politologe plädiert für eine Balance, die Traditionellen an sich binden, gleichzeitig nicht die Offenheit der Programmatik aufzugeben. In den Städten etwa müsse sie mehr auf die Ängste verwundbarer Schichten eingehen, die sich von der Globalisierung und Migration bedroht fühlen. Er fordert „mehr Empathie in der Debatte und für die Sorgen der kleinen Leute“. Diesen Spagat zu bewältigen, „ist einfacher gesagt als getan“, räumt der Politologe ein. Und es sei ein Grund, der Sozialdemokraten auch in anderen Ländern unter Druck setzt.
In der aktuellen Konstellation mit der Union sieht er wenig Hoffnung für die SPD: Sie liefert solide Politik, wirkt aber in den Augen der Bevölkerung abgenützt – das ist das Risiko als kleinerer Partner. „Die Große Koalition skalpiert noch einmal die SPD“, ist er überzeugt. Dennoch will er sie nicht abschreiben. "Es wäre für die Demokratie in Deutschland sehr problematisch, wenn eine solche Partei des sozialen Ausgleichs in rauen Zeiten der Globalisierung und entfesselten Märkte verschwinden würde." Er glaubt, dass eine Nachfrage dieser Politik auf der Straße liegt, die muss von den Sozialdemokraten viel profilierter beantwortet werden. "Deshalb müssen sie aus der Großen Koalition raus, bis sie völlig zerrieben sind. Ich erwarte, dass das im Herbst geschieht."
Für diesen Zeitpunkt haben die Sozialdemokraten angekündigt, dass sie ihre gemeinsame Arbeit mit der Union einer Prüfung unterziehen wollen. Je nachdem wie die Bilanz ausfällt, wird man entscheiden, ob es weitergeht oder nicht. Ob die SPD diese Revisionsklausel vielleicht schon früher bei einem vorgezogenen Parteitag nützen wird, will sie am 24. Juni entscheiden. Das verkündete gestern das Trio, welches die SPD interimistisch führen wird.
Apropos Personal. Die Führungsspitze wirkte zuletzt nicht überzeugend, moniert der Politologe. Die Partei hat seit 1990 elf Vorsitzende verbraucht. Das liege laut Merkel an mangelnder interner Solidarität, zuletzt aber auch am Auftreten Einzelner, wie der Parteichefin Andrea Nahles.