Politik/Ausland

DDR-Flüchtlinge erzählen: "Wussten nicht, ob wir eine Chance haben"

Es war der Anfang vom Ende: Am 2. Mai 1989 begannen ungarische Grenzsoldaten mit dem Abbau des Eisernen Vorhangs zwischen ihrem Land und Österreich. Heute vor 30 Jahren, am 27. Juni 1989, schnitten dann die damaligen Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, medienwirksam vor Fotografen Teile des Grenzzauns durch und schickten die Bilder des Umbruchs in alle Welt. Immer mehr Bürger der DDR nutzten bis zum Fall der Berliner Mauer im November die offene Grenze für eine Flucht in ein neues Leben, oft im Zuge einer genehmigten Urlaubsreise, ins sozialistische Bruderland Ungarn. Zum Meilenstein der Wende wurde auch der 19. August 1989. Beim Paneuropäischen Picknick, einer Friedensdemonstration nahe Sopron, reisten mehr als 600 Menschen aus der DDR durch ein für mehrere Stunden symbolisch geöffnetes Grenztor in den Westen – und wurden zur Inspiration für weitere Landsleute. Für den KURIER erinnern sich zwei frühere DDR-Bürger an ihre Flucht über Ungarn und Österreich – und berichten, wie es ihnen heute geht.

Jörg Stiehler: Im Henkerstempo nach Nickelsdorf

„Hallo“ – ein Wort, das Jörg Stiehler heute noch im Ohr hat. Es fiel im Sommer 1989. Der damals 16-Jährige war erst wenige Stunden nach seiner Flucht von Ungarn über Österreich in der bayerischen Grenzschutzkaserne, da grüßte ihn ein Soldat im Vorbeigehen. „Dieser entspannte Umgang von einem Uniformierten war für mich vorher undenkbar. Es machte mir klar, dass wir in einem anderen Gesellschaftssystem angekommen sind, das frei und offen miteinander umgeht.“

Alle Inhalte anzeigen

Anders erlebte er seine Jugend in der DDR, wo man vor Männern in Uniform „sonst was zu befürchten hatte“. Obwohl er nie drangsaliert wurde, stellte er das System früh infrage. Durch die Besuche eines Onkels aus der BRD bekamen sie Einblicke, was im Westen möglich war. Ebenso durch den Ungarn-Urlaub, wo es Melonen und kopierte Musikkassetten gab.

Aus dem Gefühl, dass einem so viel verwehrt blieb, beschloss er mit 14 Jahren bei Volljährigkeit einen Ausreiseantrag zu stellen. „Ich wollte nicht mehr in diesem Land leben.“ Bis zum 18. Geburtstag musste er allerdings nicht warten. Über einen Westsender erfuhren sie von den Fluchtbewegungen. Die Mutter fragte ihn, ob sie es versuchen sollten.

Mit einem Urlaubsvisum in der Tasche buchten sie eine Fahrt von Dresden nach Budapest. Er erinnert sich noch gut, mit welcher Angst sie im Zug gesessen sind und im Beisein eines dritten Fahrgastes kein Wort sprachen. „Er hätte genauso gut von der Stasi sein können.“

Nach zirka 14 Stunden Fahrt war die größte Gefahr überstanden. Am Budapester Bahnhof fragten Schwarztaxifahrer alle Aussteigenden, ob sie nach Österreich wollen. „Heute würde man sie Schlepper nennen“. Sie nahmen ihnen das Geld ab – „dann fuhr uns einer in einem Henkerstempo nach Nickelsdorf. Ich war mir nicht sicher, ob wir lebend ankommen “.

 

Die ungarischen Grenzer ließen sie passieren, von den Österreichern gab es eine dreitägige Aufenthaltserlaubnis, wie sie später bemerkten. Lange hielten sie sich ohnehin nicht auf. Vor der Rot-Kreuz-Station im Burgenland stand ein Reisebus, der in die BRD fuhr. Von Bayern ging es für Mutter und Sohn zur Verwandtschaft gen Norden.

Nach dem Mauerfall zog Stiehler wieder nach Dresden, wo sich wie in vielen Städten eine alternative Szene entwickelte. „Es entstanden neue Räume, alles wurde hinterfragt, jeder konnte für sich entscheiden, welchen Weg er gehen will“, sagt der 46-Jährige, der heute als Gründer und Grafikdesigner in Hamburg lebt und arbeitet.

30 Jahre nach dem Mauerfall sieht er aber, dass sich bei manchen ein Gefühl der Übernahme entwickelt hat. „Man sollte die Chance nutzen, um mehr hinzuhören, was die Bedürfnisse der Menschen sind.“ Neben Fragen der gerechten Verteilung geht es ihm auch um Symbolik: „Warum nicht eine gemeinsame Hymne der Einheit finden?“

Alle Inhalte anzeigen

Peter Escher: Empfangen mit Hupen und Jubel

Wenn sie jetzt aus dem Auto aussteigen, es abschließen und in das Flüchtlingslager gehen, gibt es kein Zurück mehr. Fünf Minuten haben Peter Escher und seine Frau überlegt, um dann mit ihren Kindern den Wagen zu verlassen. Aus Stasi-Sicht waren sie nun „Republiksflüchtlinge“.

Alle Inhalte anzeigen

Und nicht die Einzigen. Hunderte herrenlose Fahrzeuge mit DDR-Kennzeichen standen im August 1989 in den Straßen von Budapest, erinnert sich der heute 64-Jährige. Den Gedanken, die DDR zu verlassen, trugen er und seine Frau schon eine Weile mit sich.

Escher, der zehn Jahre lang als Nachrichtensprecher gearbeitet hat, hatte keine Lust mehr Propagandameldungen vorzulesen. Als sie übers Westfernsehen vom paneuropäischen Picknick in Sopron und der Grenzöffnung hörten, trafen sie eine Entscheidung.

Um die Flucht zu tarnen, planten sie einen Urlaub nach Ungarn – nur diesmal ohne Rückreise. Mit wenigen Kleidungsstücken im Koffer fuhren sie im Trabi von Berlin nach Budapest. „Wir wussten nicht, ob wir wirklich eine Chance haben und was passiert, wenn sie uns schnappen.“ Die Aufregung übertrug sich auch auf den einjährigen Sohn, der schwer erkrankte. Angekommen im ungarischen Lager, wies man ihnen eine Pension zu, wo sie drei Wochen ausharrten.

Was sie in dieser Ungewissheit bestärkte: In Budapest fanden sich immer mehr zusammen, die in die Freiheit wollten. „Wir waren sicher: Die Stasi kann uns nicht alle an Haaren und Händen zurückschleppen.“

Unvergessen sind ihm die gegenseitigen Aufmunterungen und der Aufschrei, als sie am 10. September von der Grenzöffnung hörten. „Die Ungarn haben den ersten Stein aus der Mauer geschlagen“, zitiert er  Helmut KohlEscher ist den Ungarn bis heute dankbar.

Noch im Vorbeifahren bekamen sie aus einem Zollhäuschen die Nachrichten und Einspieler aus dem DDR-Fernsehen mit. „In diesen Stunden verlassen Tausende kriminelle Elemente über Ungarn die Deutsche Demokratische Republik“, hieß es da. Escher: „Das waren gut ausgebildete junge Menschen, die keinen Bock mehr hatten, für dumm verkauft zu werden und eingesperrt zu sein.“

Alle Inhalte anzeigen

Bei der Fahrt durch Österreich wurden sie herzlich empfangen. „Die Menschen hupten und zeigen uns das Victory-Zeichen.“ Auch im bayerischen Auffanglager war die Freude groß, Firmenchefs boten mit Plakaten Jobs an. 

Peter Escher fand schon nach zwei Tagen Arbeit bei einem bayerischen Radiosender, wechselte dann zu Radio LuxemburgRTL und schließlich zum Mitteldeutschen Rundfunk.

Obwohl sich die Wende für ihn so positiv entwickelte, ist ihm bewusst, dass sie für einige zu spät kam. Manche wären zu alt oder zu wenig qualifiziert gewesen. „Es ist bitter, wenn man nach der langersehnten Freiheit arbeitslos ist und keine vernünftige Rente hat.“

 

Alle Inhalte anzeigen