Buchtipp: Orbáns "Führerdemokratie" als Stoff für neue Kapitel
Wie konnte Ungarn zu einem „erschreckenden Beispiel der neuen Bedrohungen freiheitlicher Demokratien“ werden? Der ausgewiesene Experte Paul Lendvai versucht, diese Frage in den beiden neuen Kapiteln seines 1989 fertiggestellten Klassikers „Die Ungarn“ zu beantworten.
Dazu hat er sich in der erweiterten Neuauflage seines Sammelwerkes über die „tausendjährige Geschichte“ Ungarns die vergangenen 30 Jahre zur Brust genommen. „Ich weiß, von tausend Jahren erscheinen 30 vielleicht als wenig“, sagt Lendvai zum KURIER. „Aber sie sind wichtig. Denn es kam zu einer totalen Änderung der Lage. 2010 passierte nicht nur ein Regierungswechsel, sondern ein Systemwechsel“, sagt Lendvai.
"Autoritäre Zukunft"
Ursprünglich hatte das Buch mit der Wende 1989 geendet. Doch die Ära Orbáns und der Weg dorthin dürfen in der Aufarbeitung der Geschichte des Landes nicht fehlen. Viktor Orbán, so schreibt der Autor, „führt zur Zeit der Drucklegung die zehn Millionen Magyaren weg von der Liberalen Demokratie in eine autoritäre Zukunft“.
Publizist Lendvai nennt die vergangenen 10 Jahre, in denen Viktor Orbán Premierminister war, „Orbán-Regime“ und beschreibt damit den Weg vom Scheitern des demokratischen Experiments nach der Wende hin zu Orbáns „Führerdemokratie“. Die „Dämonen“ aus Ungarns Vergangenheit seien spätestens in dieser Zeit zurückgekehrt: Nationalismus, Völkerhass, Korruption und autoritäre Tendenzen.
Das Experiment der Demokratie, so Lendvai, sei gescheitert. Den Weg dorthin beschreibt der Publizist in gewohnt verständlicher und umfassender Form.
Geprägt durch Orbán
Die Person, die dieses Jahrzehnt in Ungarn geprägt hat wie keine andere, bekommt in den neuen Kapiteln besondere Aufmerksamkeit – Viktor Orbán.
Orbán, der 35 war, als seine Fidesz-Partei 1998 die Wahlen gewann, konnte mit zwei Kleinparteien schon damals mit absoluter Mehrheit regieren und das System nach seinen Vorstellungen umgestalten, beschreibt Lendvai. Die Regierung stärkte die Position des Ministerpräsidenten, schwächt jene des Parlaments und positioniert politisch Nahestehende in Justiz und Medien.
Die Wahlen hatte er mit einem systematischen Rechtsruck seiner jungen und eigentlich liberalen Partei für sich entscheiden können. Lendvai beschreibt ihn als machtgierig, unbarmherzig, er habe keine inneren Grenzen, werde bewundert von Unterstützern, gehasst von Gegnern, er vertraue niemandem.
Die Niederlage bei den Wahlen 2002 sei ein großer Schock für Orbán gewesen, umso stärker und mächtiger kam er 2010 zurück. Ab da konnte er als Ministerpräsident, so der ausgewiesene Orbán-Kritiker Lendvai, „fast mühelos“ ein getarntes autoritäres System aufbauen, weil die dazwischenliegenden Regierenden durch einen „moralischen Bankrott eines korrupten Systems“ offenbar den letzten Funken Vertrauen in die Politik vernichten könnten. Die Mitte-links-Elite sei politisch und wirtschaftlich inkompetent gewesen und so gescheitert.
Corona kaltblütig ausgenutzt
Die Corona-Krise habe Viktor Orbán kaltblütig ausgenutzt, um seine Macht auszubauen, hatte Lendvai schon im Mai bekräftigt, als der MP per Dekret am Parlament vorbei regieren ließ. Er habe damit das Land „an den Rand der Diktatur“ gebracht.
Die Situation in Ungarn sei möglich wegen der „Begabung und Sonderstellung von Viktor Orbán“, aber auch dank einer „gespaltenen Opposition“, des „Fehlens einer Zivilgesellschaft bisher“ und der „Gleichgültigkeit im Westen“. Obwohl Lendvai als Kritiker des ungarischen Premiers bekannt ist, habe er auch die vergangenen zehn Jahre „ohne Hass und Verbitterung und Befangenheit“ beleuchten wollen.