Angriff auf die Ukraine: Was in der Nacht geschehen ist
Die russische und ukrainische Armee haben in der Nacht auf Samstag erbittert um die Kontrolle über die Hauptstadt Kiew gekämpft. Im Zentrum waren Explosionen und Gefechtslärm zu hören, die offenbar von Kämpfen am Stadtrand stammten. Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Oleksij Danilow, sagte in der Früh, die Situation in Kiew sei "unter Kontrolle der Armee". Präsident Wolodymyr Selenskij hatte zuvor von einer entscheidenden Nacht gesprochen.
"Das Schicksal des Landes entscheidet sich gerade jetzt", sagte Selenskij am späten Freitagabend. Er äußerte die Erwartung, dass es in der Nacht zum russischen Ansturm kommen werde und rief die Bewohner der Millionenstadt zum entschlossenen Widerstand auf. "Wir stoppen die Horden so gut wir können", sagte Danilow in der Früh. Die Lage sei unter Kontrolle der Armee und der Bürger Kiews. Allerdings waren nach Sonnenaufgang auch Schüsse in der Nähe des Kiewer Regierungsviertels zu hören.
"Guten Morgen"
Samstagfrüh hat Selenskyj in einer neuen Videobotschaft seinen Durchhaltewillen im Kampf gegen den russischen Angriff bekräftigt. "Wir werden die Waffen nicht niederlegen, wir werden unseren Staat verteidigen", sagte er in dem Video, in dem er offenbar vor seinem Amtssitz in Kiew stand. Er selbst werde in Kiew bleiben. Zudem wünsche er "allen einen guten Morgen." Er wolle kursierende Falschnachrichten widerlegen, wonach er das Land verlassen habe.
"Ich bin hier." Das Land müsse verteidigt werden. "Ruhm der Ukraine!" Der russische Präsident Wladimir Putin hatte zuvor die ukrainische Armee aufgefordert, die Waffen niederzulegen. Das zeichnete sich nicht ab.
Der frühere ukrainische Botschafter in Österreich, Olexander Scherba, zog einen Vergleich zum deutschen Russland-Feldzug im Zweiten Weltkrieg. "Russen, erinnert ihr euch an den Winter 1941, als das heldenhafte Volk die Nazi-Horden vor Moskau aufhielt? Heute hat das heldenhafte Volk eure Horden bei Kiew aufgehalten. Und ihr wisst, was als nächstes passiert", sagte er in Anspielung auf den weiteren Verlauf des Weltkriegs.
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Rakete trifft Hochhaus in Kiew
Bei schweren Angriffen russischer Truppen in der Ukraine ist ein Hochhaus in der Hauptstadt Kiew von einem Geschoss getroffen worden. Bilder von dem Hochhaus zeigten deutlich sichtbar einen Einschlag in oberen Stockwerken. Mindestens vier Etagen auf einer Seite des Hauses wurden dabei zerstört. Es stieg Rauch auf. Unklar war zunächst, was genau vorgefallen war und ob es Opfer gab. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba twitterte ein Foto des getroffenen Hochhauses.
"Kiew, unsere schöne, friedliche Stadt hat eine weitere Nacht unter Beschuss von russischen Bodentruppen und Raketen überlebt", schrieb er dazu. "Ich fordere die Welt auf: Russland vollständig isolieren, Botschafter ausweisen, Ölembargo, die russische Wirtschaft zerstören", schrieb Kuleba. "Stoppt russische Kriegsverbrecher!"
Angriff auf Kraftwerk
Russische Truppen versuchten, das Heizkraftwerk Nr. 6 anzugreifen, teilte ein Amt für Behördenkommunikation mit. Die ukrainische Armee verteidige sich. Das Kraftwerk liegt im äußersten Nordosten der Millionenstadt auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro. Auch von anderen Stellen auf dem rechten Ufer gab es Berichte über Explosionen und Schüsse aus automatischen Waffen. Die Armee teilte mit, dass ein russischer Angriff auf einen strategisch wichtigen Militärstützpunkt zurückgeschlagen werden konnte. Dieser befindet sich auf der Siegesstraße, einer der wichtigsten Einfahrtsstraßen nach Kiew.
Das Onlinemedium Kyiv Independent berichtete auf seinem Telegram-Kanal von "mehr als 50 Explosionen" in den Stadtteilen Schuljawka und Zoopark sowie bei der Metrostation Berestejska. Die Armee verkündete den Abschuss von zwei Transportflugzeugen des Typs Iljuschin II-76, in denen sich russische Fallschirmjäger befunden haben sollen. Eines soll bei Bila Tserkwa rund 80 Kilometer südlich von Kiew abgeschossen worden sein, das zweite beim Luftwaffenstützpunkt Wassylkiw etwa 40 Kilometer südlich von Kiew. Um den Stützpunkt wurde demnach heftig gekämpft.
Aufruf Selenskijs
"Der Feind wird alle seine Kräfte einsetzen, um unseren Widerstand zu brechen", sagte Selenskij am späten Freitagabend. "In dieser Nacht setzen sie zum Sturm auf Kiew an." Er rief alle Ukrainer auf, "den Feind wo auch immer möglich aufzuhalten". Die Bevölkerung sollte alle Sonderzeichen entfernen, die Saboteure an Straßen und Häusern anbringen. "Verbrennt die feindliche Militärtechnik mit allem, was zur Verfügung steht!" Sollten die Angreifer auch Kindergärten ins Visier nehmen, sollten sie daran gehindert werden, so Selenskij weiter. "Alle Gebete sind mit unsere Soldaten. Wir glauben an sie. Sorgt für sie!"
Selenskyj hatte sich zuvor in einem kurzen Videoclip mit Regierungschef Denys Schmyhal und weiteren ranghohen Politikern auf einer Straße in der ukrainischen Hauptstadt gezeigt. "Wir sind alle hier", sagte er. Dazu schrieb er: "Wir sind in Kiew. Wir verteidigen die Ukraine." Damit reagierte Selenskyj, der wie die anderen Spitzenpolitiker ein Uniformhemd trug, auf Gerüchte, er verstecke sich in einem Bunker oder habe die Stadt verlassen. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko hatte am Abend von mehreren Detonationen im Norden der Hauptstadt berichtet. "Die Lage ist jetzt - ohne Übertreibung - bedrohlich für Kiew. Die Nacht, kurz vor Tagesanbruch, wird sehr schwierig", sagte Klitschko.
Schon untertags hatte es geheißen, die russische Armee sei bei ihrem Angriffskrieg auf die Ukraine bis in die Hauptstadt Kiew vorgedrungen. Das ukrainische Verteidigungsministerium meldete am Freitag russische "Saboteure" im nördlichen Stadtbezirk Obolon. Außenminister Dmytro Kuleba berichtete zudem von "schrecklichen russischen Raketenangriffen" auf die Millionenstadt. Die russischen Truppen hatten zuvor auch den strategisch wichtigen Flugplatz Hostomel nordwestlich der Hauptstadt eingenommen und dort eigenen Angaben zufolge 200 Ukrainer "neutralisiert".
Luftangriffe im Osten
Die militärische Lage zeigte sich auch in anderen Teilen des Landes bedrohlich für die Ukraine. So wurden am Samstag in der Früh aus dem Osten des Landes Luftangriffe gemeldet. Gebiete in der Nähe der Städte Sumy, Poltawa und Mariupol seien aus der Luft attackiert worden, teilt das ukrainische Militär mit. Vom Schwarzen Meer aus seien Marschflugkörper auf die Ukraine abgefeuert worden. Die russische Staatsagentur Ria Nowosti meldete, dass die Invasoren "ohne Widerstand" die Kleinstadt Melitopol am Asowschen Meer besetzen konnten. Von ukrainischer Seite hieß es, die Stadt sei umzingelt und kleine Gruppen russischer Soldaten in die Stadt eingedrungen. Nach Angaben des Pentagons bereitete Russland auch einen Angriff auf die strategisch wichtige Stadt Mariupol vor, indem Soldaten und Gerät mit amphibischen Schiffen in der Nähe an Land gebracht werden sollte.
Russische Soldaten beschossen nach ukrainischen Angaben die Region um die Hafenstadt Odessa an der Schwarzmeer-Küste mit Raketen. Betroffen sei auch Infrastruktur in der Region Mykolajiw. Mehrere Beobachtungsposten seien beschädigt worden. Befürchtet wird, dass russische Truppen nach Odessa vorrücken könnten - eine strategisch wichtige Stadt. Russische Truppen hatten nach ukrainischen Angaben den Fluss Dnipro in der Südukraine überschritten. Damit hätten sie nun Zugang zur strategisch wichtigen Stadt Cherson, die wiederum eine wichtige Rolle beim Schutz von Odessa spielt.
Die genaue militärische Lage blieb undurchsichtig. Russland setzte eigenen Angaben zufolge 211 ukrainische Militärobjekte "außer Gefecht". Auch sechs Kampfflugzeuge, ein Hubschrauber und fünf Drohnen seien abgeschossen worden. Auch 67 Panzer wurden zerstört. Nach ukrainischen Angaben erlitten die russischen Truppen schwere Verluste. Präsident Selenskyj sagte, in der ukrainischen Armee seien am ersten Tag der Invasion 137 Soldaten getötet und 316 Soldaten verletzt worden. Das Verteidigungsministerium sprach von 30 zerstörten russischen Panzern, 130 Panzerfahrzeugen, 7 Flugzeugen und 6 Hubschraubern. Etwa 1.000 russische Soldaten seien getötet worden.