Nostalgie und Aufbruch: Das alte und das neue Odessa
Von Susanne Lintl
Das erste Déjà vu-Erlebnis hat der Odessa-Novize beim Anblick des prachtvollen Opernhauses: Das sieht doch aus wie die Wiener Volksoper? Oder wie das Ronacher? Vertraut jedenfalls. Nun, der Besucher liegt nicht falsch, reichte das Betätigungsfeld der Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer weit über Österreich hinaus: Von Ungarn und Zagreb über Zürich und Hamburg bis Odessa.
Wer spontan beschließt, in die Oper zu gehen, wird sich fragen, ob das möglich ist: Karten für Mozarts „Don Giovanni“ kosten umgerechnet sechs Euro. Aber der Preis stimmt. Viele ältere Frauen stehen mit dem Einkaufskorb vom Markt an, um Karten zu bekommen. Sie gehen in die Oper, weil sie es sich leisten können.
Das zweite Déjà-vu folgt bei der Hauptsehenswürdigkeit der Stadt, der Potemkinschen Treppe. Die breite und lange Treppe mit zweihundert Stufen, die vom Hafen bis zum Primorskij-Boulevard mit der Statue des Herzogs von Richelieu hinauf führt, ist – zumindest für Kinoliebhaber – eine der berühmtesten der Welt. Sergej M. Eisenstein verewigte sie in seinem Historiendrama „Panzerkreuzer Potemkin“ aus dem Jahr 1925. Unvergessen die Szene, in der der Kinderwagen mit einem schreienden Kind die Treppe hinunterrollt. Unweigerlich schreitet man vorsichtig die Stufen hinunter, diese Bilder im Kopf. Hinauf geht es mit dem Funicular, einer Standseilbahn, die sich ächzend den Berg hinauf quält.
Erleben in Odessa: 3 Kurz-Tipps
Odessa ist eine überraschende Stadt. Eine Wundertüte, die sich dem öffnet, der sich auf sie einlässt. Dem, der nicht zuerst die bröckelnden Gebäude aus Sowjetzeiten in den Nebengassen, sondern die bunt renovierten klassizistischen Fassaden, die üppigen Stuckverzierungen, die Belle Epoque-Nymphen, die orthodoxen Zwiebeltürmchen, die vielen neuen Geschäfte und die lässigen Lokale sieht. Der sich am Abend, wenn der Primorskij-Boulevard oberhalb des Meeres zur Freiluftkonzert-Meile wird, auf einer Parkbank niederlässt und den Darbietungen der Musiker lauscht anstatt weiterzugehen. Der staunt, was sich auf der Deribasovskaja- und der Ekaterininskaja-Straße am Abend abspielt (gibt’s in Wien so eine Partymeile?) und schließlich vor einem gehaltvollen Drink im „The Fitz“ landet. Die Bar wird regelmäßig zur besten der Ukraine gewählt. Beim dritten Besuch, wenn man quasi Stammgast ist, bekommt man ein Polaroidfoto als Andenken geschenkt.
Odessa, 1794 von Zarin Katharina der Großen gegründet, war immer eine kosmopolitische Stadt: ein Zentrum des Handels, der südliche Hafen des russischen Reichs, das Tor vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer und weiter nach Amerika. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Odessa eine reiche Stadt. Und nach Warschau war es die Stadt mit der größten jüdischen Bevölkerung in Europa. Italiener, Griechen, Russen, Türken und Deutsche prägten das Stadtbild der „Perle am Schwarzen Meer“. Sie alle haben Spuren hinterlassen: Schlendert man am Langeron-Strand entlang, erinnern die Schirme und Liegestühle an ein Strandbad in Rimini. Speist man im „Bernardazzi“ im Innenhof der Philharmonie, wähnt man sich in einem Palazzo in Mailand.
Das jüdische Odessa ist heute noch spürbar – in hervorragenden Restaurants wie dem „Gefillte Fish“ oder dem „Dizyngoff Restaurant“ mit seinem Räucherlachs-Gurken-Cheesecake, dem Shiitakepilz-Hummus und dem vorzüglichen Seebarsch-Sashimi. In den letzten Jahren sollen auch viele emigrierte jüdische Bürger aus Amerika zurückgekehrt sein.
Russische Intellektuellenaura
An Sowjetzeiten erinnert die Babuschka im Kassenhäuschen des Literaturmuseums. Sie hat es sich mit einem Häkeldeckchen auf dem Tisch, Fotos ihrer Lieben und einem Telefon aus UdSSR-Zeiten gemütlich gemacht. Sie lässt Strenge walten: Der Weg durchs Museum ist genau vorgegeben, Abschweifungen werden nicht geduldet. Der Besucher macht sich ein Bild von der Künstlerprominenz, die Odessa belebte. In einem altehrwürdigen Palais mit prachtvollem Park wandelt er auf den Spuren Anton Tschechows, Nikolai Gogols oder Alexander Puschkins, die von Moskau hierher flohen. Puschkin wurde in Odessa richtiggehend liebeskrank. Er verliebte sich unsterblich in die Gräfin Woronzow, unvorteilhafterweise Gattin des Gouverneurs von Odessa.
Die flammende Affäre nahm kein gutes Ende: Woronzow kam den Turteltauben auf die Schliche und sorgte dafür, dass Puschkin aus dem diplomatischen Dienst austreten und Odessa verlassen musste.
Wer klassische Musik mag, sollte unbedingt einen Abend in der Oper von Odessa einplanen. Viele bekannte Werke wie „Carmen“, „Der Barbier von Sevilla“, „Don Giovanni“, aber auch Ballettaufführungen stehen auf dem Spielplan. Die Tickets sind außerordentlich günstig – ab umgerechnet 6 Euro ist man dabei. Die Tageskasse ist von Dienstag bis Sonntag von 11 bis 19.30 Uhr geöffnet. Auch online können Tickets gebucht werden.
Sehr zu empfehlen ist der Besuch des Literaturmuseums in der Lanzheronivska-Straße 2. Mehr als 300 Autoren – von Puschkin über Jewgeni Petrow bis zu Iwan Alexejewitsch Bunin – werden in dem alten Palais mit angeschlossenem Skulpturengarten präsentiert. Im Goldenen Saal, der mit kristallenen Lüstern und prunkvollen Wandornamenten geschmückt ist, traf sich um 1900 die literarische Avantgarde der Hafenstadt. Heute finden dort Konzerte und Lesungen statt. Besonders stolz sind die Odessiter auf den Sohn ihrer Stadt, den Schriftsteller Isaak Babel. Mit seinen „Geschichten aus Odessa“ setzte er der Stadt ein literarisches Denkmal.
Am Abend zeigt die Stadt ihre unbeschwerte Seite. Verkäufer mit blinkenden Luftballons säumen die Strandboulevards, mobile Kioske verkaufen Souvenir-Krimskrams, Eis oder Waffeln, junge Leute tanzen zu musikalischen Darbietungen und Verliebte himmeln einander auf den Parkbänken an. Lebensfreude für Jung und Alt. Odessa ist die perfekte Mischung aus südlichem Flair, russischer Intellektuellenaura und europäischer Jahrhundertwende-Nostalgie.
Nur mit deutlich weniger Touristen als anderswo und mit moderaten Preisen. Man verlässt die Stadt mit Wehmut und wünscht sich, dass sie ihre außergewöhnliche, sympathische Aura noch lange behält. Und dass die Ukraine bald wieder ihren Frieden findet, auch wenn in Odessa vom Konflikt mit den Russen vierhundert Kilometer weiter im Osten nichts zu bemerken ist.
Anreise
Mit dem Auto dauert die Anreise ab Wien 18 Stunden, Austrian fliegt Odessa bis zu zwei Mal täglich von Wien an, Flugzeit
1:50 Stunden (austrian.com).
Wer den CO2-Ausstoß kompensieren will (etwa bei climateaustria.at), zahlt dafür 7 € (Hin- und Rückflug)
Übernachten
– Duke Hotel: nahe dem Opernhaus. Etwas altmodisch, jedoch geräumig, freundliches Personal. Zimmer ab ca. 80 €. hotel-duke.com/en/hotel
– Hotel de Paris: exklusiver, neben der Potemkinschen Treppe, mit Spa und schön designtem Restaurant. Zimmer ab 180 €. accorhotels.com/Ukraine
Essen und Trinken
– Gemütlich zum Sitzen ist das Kompot auf der Deribasovskaya- Straße 20. Es hat einen Schanigarten und den ganzen Tag über geöffnet. Tolles Frühstück, zu Mittag stehen auch viele lokale Speisen auf der Karte wie Hühnerleber und geräucherter Fisch. Nebenan gibt’s im Café köstliche Mehlspeisen und Eis. kompot.ua/en
– Im Gefillte Fish in der Farshirovannaya ryba serviert Haubenkoch Savva Libkin traditionelle jüdische Fischgerichte in exzellenter Qualität. Lässiges Lokal, das unter den Odessitern offenbar sehr populär ist. savva-libkin.com
– Nobel geht es im Bernardazzi im Hof der Philharmonie zu.
Gediegenes Ambiente, hohes Koch-, aber auch Preisniveau. Der gebratene Seebarsch mit Couscous und Trauben und das Boeuf Stroganoff mit Trüffelpüree und schwarzen Kartoffelflakes waren köstlich. bernadazzi.com