Bedrängter Erdoğan spielt wieder die Flüchtlingskarte
Von Walter Friedl
Die Drohung ist nicht neu, aber diesmal ernst zu nehmen. Denn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht tatsächlich mit dem Rücken zur Wand - allerdings durchaus selbst verschuldet. Immer tiefer ließ er sich in den syrischen Krieg verstricken. Um sein Ziel zu erreichen, den Machthaber in Damaskus, Bashir al-Assad, zu vertreiben, schreckte er nicht einmal davor zurück, terroristische Dschihadisten zu unterstützen. Und auch die eigene Armee ins Nachbarland zu schicken. Jetzt zahlt er den blutigen Tribut dafür: Bei einem Luftangriff wurden mindesten 33 seiner Soldaten getötet.
Nun könnte die Lage vollends eskalieren, sogar ein offener Krieg mit Russland ist nicht auszuschließen, das ja auf der Seite Assads kämpft. Die Finanzmärkte reagierten bereits: Die türkische Währung fällt ins Bodenlose, die Aktienkurse in Istanbul sacken ab. In dieser Zwangslage fordert Erdoğan die Solidarität der NATO ein - und lässt unverhohlen andeuten, dass er die Grenzen zu Europa für Flüchtlinge öffnen könnte. Immerhin befinden sich in der Türkei rund 3,6 Millionen, und in der umkämpften syrischen Provinz Idlib nochmals fast eine Million Vertriebene.
An Putin führt kein Weg vorbei
Die EU und das nordatlantische Verteidigungsbündnis sollten in dieser heiklen Phase kühlen Kopf bewahren. Zum einen muss die NATO auf Ankara einwirken, alles zu lassen, was zu einer weiteren Verschärfung führen könnte - schwer genug bei einem ebenso eigenwilligen wie kraftmeiernden Präsidenten. Zum anderen darf sich der Westen nicht erpressen lassen von Erdoğan, der immer dann, wenn es ihm passt oder wenn er in Bedrängnis ist, die Flüchtlingskarte spielt.
Wobei dieser vermeintliche (oder tatsächliche) Trumpf auch im Blatt von Kremlchef Wladimir Putin steckt. Da er der stärkste Player in Syrien ist, kann er - wenn es ihm denn opportun erscheint - die Lage auf den Schlachtfeldern immer weiter anheizen und die Türkei und in weiterer Folge Europa mit Millionen Flüchtlingen fluten.
Was also tun? Es wird nichts Anderes übrig bleiben, als sich mit dem russischen Präsidenten an einen Tisch zu setzen. Denn ob man das will oder nicht: Um endlich, nach neun Kriegsjahren, eine Lösung für Syrien zu erzielen, führt kein Weg an Putin vorbei. Und was die Flüchtlingsfrage anbelangt, sollte die jüngste Entwicklung der letzte Weckruf für Europa gewesen sein, endlich eine gemeinsame, kohärente und solidarische Strategie zu entwickeln. Es ist ohnehin ein Trauerspiel, dass nach 2015 in diese Richtung nichts geschehen ist - weil nationalstaatliches Kleinklein dominiert und die Vision eines großen, geeinten und starken Europas blockiert. Bitter.