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"Von der Demokratie ausgeschlossen": Wer in Österreich nicht wählen darf

Bei der Nationalratswahl am kommenden Sonntag werden viele Menschen, die in Österreich leben, ihre Stimme nicht abgeben können. Laut der Menschenrechtsorganisation "SOS Mitmensch" sind 1,5 Millionen Menschen im Wahlalter ausgeschlossen, weil sie zwar in Österreich zuhause sind, aber keinen österreichischen Pass haben. Denn der Zugang zu Staatsbürgerschaft und Wahlrecht ist hierzulande, auch im internationalen Vergleich, sehr restriktiv.

Auch wenn Studien beweisen, dass ein langwieriger Weg zur Staatsbürgerschaft kontraproduktiv sein kann, steht laut Migrations- und Integrationsforscher Rainer Bauböck von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Österreich die Einbürgerung erst "am Ende eines abgeschlossenen, erfolgreichen Integrationsprozesses." In einem auf der ÖAW-Homepage erschienenen Doppelinterview erklären Bauböck und Politikwissenschaftler Gerd Valchars, die gemeinsam das Buch "Migration und Staatsbürgerschaft" schrieben, was diese Außenseiterposition für viele hier Lebenden für Österreich bedeutet.

Wie ist der Zugang zur Staatsbürgerschaft in Österreich geregelt?

Rainer Bauböck: Es gibt kein "ius soli", also das Recht auf Staatsbürgerschaft für alle Kinder, die im Staatsgebiet geboren wurden. In den meisten nord- und südamerikanischen Staaten gilt diese Regel, aber auch in Deutschland wurde sie 2000 eingeführt. In Österreich bleibt auch für die Kinder der Eingewanderten der Zugang zur Staatsbürgerschaft eigentlich nur über die Einbürgerung. Und die ist im internationalen Vergleich sehr strikt geregelt. Aber auch das Wahlrecht ist in Österreich fast ausschließlich an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. Die einzige Ausnahme ist, dass EU-Bürger:innen bei den Kommunalwahlen wahlberechtigt sind. In Österreich wird es den Menschen schwer gemacht, sich demokratisch zu beteiligen.

Gerd Valchars: Wie extrem schwierig es tatsächlich ist, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben, überrascht vielleicht. Es gibt eine Studie (Migrant Integration Policy Index | MIPEX 2020) in der 56 Staaten weltweit miteinander verglichen werden, wie schwer es ist, die jeweilige nationale Staatsbürgerschaft zu bekommen. Österreich erhielt in diesem Vergleich nur 13 von 100 Punkten und ist damit gemeinsam mit Bulgarien das restriktivste europäische Land. Im internationalen Vergleich gibt es nur zwei Staaten, die noch restriktiver als Österreich sind, nämlich Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Welche Probleme leiten sich davon ab?

Valchars: Nicht wahlberechtigte Personen sind nicht im politischen Geschehen inkludiert. Wir reden hier von 1,5 Millionen, die über 16 Jahre alt sind und dauerhaft in Österreich leben. Deren Interessen sind im politischen Geschehen nicht repräsentiert. Das ist ein Zeichen des Staates diesen Menschen gegenüber, dass sie nicht dazugehören. Gerade bei Jugendlichen kann das zu einem Distanzierungsprozess führen. Es verstößt auch gegen den Anspruch, den die Politik und die Gesellschaft Migrant:innen gegenüber ständig formulieren, dass sie sich integrieren sollen. Gleichzeitig schließt man sie von der Demokratie aus und verhindert damit ihre Integration.

Also eine klassische Double-Bind-Situation bzw. ein Paradox? 

Bauböck: Absolut. Aktuelle Zahlen der Statistik Austria zeigen, dass die österreichische Bevölkerung kontinuierlich wächst - und zwar vor allem durch Zuwanderung. Wir stehen jetzt schon bei 9,16 Millionen. Aber die Zahl der Wahlberechtigten nimmt ab. Das führt zu Verzerrungen in der Repräsentation. Wie wir wissen, ist die Zuwanderungsbevölkerung primär auf Städte konzentriert. Das heißt, in Wien gibt es einen höheren Anteil der nicht wahlberechtigten Bevölkerung als am Land. Ähnlich bei der Alterspyramide: Die Zuwanderungsbevölkerung ist im Schnitt jünger als die sogenannte einheimische Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Und ebenso deutlich unterrepräsentiert sind Menschen mit niedrigeren Einkommen, weil es unter diesen besonders viele Migrant:innen gibt. Der blockierte Zugang zur Staatsbürgerschaft betrifft also nicht nur die Zugewanderten, sondern auch die städtische, junge und ärmere Bevölkerung insgesamt, weil ihre Interessen in der Politik weniger berücksichtigt werden. Dadurch gerät die Demokratie als Ganzes in eine Schieflage.

Wie sieht es mit Doppelstaatsbürgerschaften aus?

Valchars: Auch da ist Österreich ein Außenseiter. Zugewanderte müssen ihre bisherige Staatsbürgerschaft zurücklegen, bevor sie in Österreich eingebürgert werden können. Die meisten anderen Staaten haben pragmatische Lösungen gefunden, der weltweite Trend geht zur Akzeptanz von Doppelstaatsbürgerschaft. Genauso wichtig wäre aber auch, die Einbürgerung an realistische Kriterien zu knüpfen. Österreich verlangt ein relativ hohes Einkommen, das in den letzten Jahren erwirtschaftet werden musste. Wir wissen aus der Statistik, dass auch viele Österreicher:innen diesen Nachweis nicht erbringen könnten. Wir reden hier von bis zu 60 Prozent der Arbeiterinnen und über 30 Prozent der Arbeiter. Man geht also von einem Idealbild eines perfekten Österreichers und einer perfekten Österreicherin aus, welches der Realität nicht entspricht.

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Was bedeutet das für die Integration?

Bauböck: In Österreich steht die Staatsbürgerschaft als Belohnung am Ende eines abgeschlossenen, erfolgreichen Integrationsprozesses. Das ist eine Vorstellung, die von den Sozialwissenschaften gründlich widerlegt worden ist. Wir wissen, dass der Erwerb der Staatsbürgerschaft positive Wirkungen auf das Arbeitseinkommen, den Zugang zu besseren Wohnungen und für Bildungschancen der Kinder bringt. Insofern ist die Einbürgerung ein Katalysator im Integrationsprozess und keineswegs der Abschluss. Wenn die Einbürgerung frühzeitig erfolgt oder eine Aussicht darauf besteht, dann ist der Anreiz stark, selbst mehr in den Spracherwerb oder in bessere Berufsqualifikationen zu investieren. Die Integrationseffekte einer liberalen Einbürgerungspolitik wirken also bereits vor der Einbürgerung – und sie wirken noch einmal verstärkt nach dieser.