Warum Tito auch 41 Jahre nach seinem Tod die Geister spaltet
Von Mirad Odobašić
Ob Mark Zuckerberg eine Ahnung hat, was am 4. Mai 1980 um 15:05 Uhr passiert ist? Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Seinen Mitarbeitern wird aber nicht entgangen sein, dass alle Jahre wieder am 4. Mai die Facebook-User in einem bestimmten Teil Südosteuropas besonders aktiv sind. Und ihre Timelines mit Bildern eines sonnengebräunten Herrn in schicker, weißer Uniform überfluten.
Josip Broz lautet der Name dieses Mannes, den die breite Öffentlichkeit unter seinem prägnanten Spitznamen Tito in Erinnerung behalten hat. Am besagten 4. Mai vor mittlerweile 41 Jahren, um eben 15:05 Uhr, hat der charismatische Staatsmann, der Jugoslawien weltweit salonfähig gemacht hatte, in einem Krankenhaus in Ljubljana seinen letzten Atemzug getätigt.
Tito ist unter den Völkern, die unter seiner Obhut in einem Staat gelebt haben, höchst umstritten. Während die einen ihm immer noch nachweinen, werfen ihm die anderen Tyrannei vor. Im KURIER-Interview erklärt Dr. Armina Galijaš, die als Assistenzprofessorin am Zentrum für Südosteuropastudien der Universität Graz arbeitet, den Kult um diese schillernde Persönlichkeit.
Jedes Jahr grüßt im Mai das Murmeltier: Am 4. und 25. Mai (Titos Geburtstag) glühen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens die sozialen Netzwerke. Trügt der Schein oder weinen ihm die Leute tatsächlich immer noch nach?
Armina Galijaš: Das hängt doch sehr vom Alter, der regionalen Herkunft sowie der Klassenzugehörigkeit der Nutzer ab. Ich habe zunehmend den Eindruck, dass diejenigen, die Tito nachweinen, der jüngeren Generation angehören, also keine aktive Erinnerung an Tito haben. Es gibt aber diesen Mythos, der besagt, dass früher alles besser war. Das ist einerseits klassische Nostalgie, andererseits eine Art von Flucht aus dem Nationalismus bzw. eine Alternative zu dem jetzigen Zustand, in dem alles schlecht ist. Und machen wir uns nichts vor: Die soziale, politische und wirtschaftliche Lage in vielen Nachfolgestaaten ist schlecht.
Handelt es sich dabei wirklich nur um Nostalgie?
In Ermangelung an Alternativen und Visionen wähnt man sich gern in Erinnerungen an die "guten, alten Zeiten". Die Mantras wie "Früher haben wir alle gemeinsam leben können, früher war’s allen wurscht, ob du ein Serbe, Kroate oder Bosniake bist, früher war alles gut" hört man immer wieder. Aus meiner Sicht ist dies eine Falle, die ganz und gar nicht der Wahrheit entspricht.
Das Ganze ist also doch nicht so harmlos?
Die Menschen neigen doch dazu, sehr unkritisch auf diese Zeiten zurückzublicken. Es handelt sich um eine unvorsichtige Idealisierung, die auch legitim ist, wenn sie in einem kleinen, privaten Rahmen stattfindet (wie z.B. das Lokal, in dem wir gerade sitzen, in dem einige schöne Erinnerungen an diese Zeiten zu sehen sind). In einem politischen Kontext sollte man aber doch vorsichtig sein. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass das eine bestimmte Ideologie war.
Eine gefährliche?
Mit Ideologien spaßt man einfach nicht. Schließlich sind viele Menschen auch dieser Ideologie zum Opfer gefallen. Man muss sich dessen im Klaren sein, dass z.B. in dem so umstrittenen Bleiburg auch zivile Opfer, darunter auch Kinder umgebracht wurden. Man darf keinen Unterschied zwischen einem getöteten Kind in Bleiburg oder Srebrenica machen.
Rund 40.000 geflüchtete Soldaten der Ustascha-Miliz des faschistischen "Unabhängigen Staates Kroatien", die an der Seite Nazideutschlands gekämpft hatten, wurden 1945 in Bleiburg mit ihren Familienangehörigen von der britischen Besatzungsmacht an die kommunistischen Tito-Einheiten ausgeliefert. Zehntausende wurden an Ort und Stelle oder auf dem Rückmarsch nach Jugoslawien ermordet.
Der Völkermord von Srebrenica im Juli 1995 gilt als schlimmstes Kriegsverbrechen in Europa nach 1945. Nach der Einnahme der muslimischen Enklave Srebrenica durch die bosnisch-serbischen Truppen wurden mehr als 8.000 bosnisch-muslimische Männer und Buben ermordet. Das jüngste Todesopfer war erst 13 Jahre alt, das älteste 94. Ihre Leichen wurden nach dem Krieg (1992-95) in zahlreichen Massengräbern entdeckt, nach vielen Verschollenen wird weiterhin gesucht. Die sterblichen Überreste von etwa 6.900 seit dem Kriegsende gefundenen und identifizierten Opfern ruhen auf der Gedenkstätte Potočari.
Was war das Beste, was Tito für seine Landsleute getan hat? Oder anders formuliert: Hat er ihnen mehr Freud oder Leid angetan?
Es gibt da viele verschiedene Aspekte, auf Anhieb kann ich zehn Dinge aufzählen, die katastrophal waren, aber auch zehn, die emanzipatorisch waren. Zu den letzten zählen das Bildungs- sowie das Gesundheitswesen, die beide - wie übrigens in anderen sozialistischen Ländern auch - ihrer Zeit voraus waren. Es gibt z.B. diesen Mythos, dass Tito Bosnien-Herzegowina (BiH), die Vorzeige-Vielvölkerrepublik schlechthin, ein neues Leben eingehaucht hat. Das stimmt nur bedingt, denn wirtschaftlich hinkte BiH stets Serbien und Kroatien hinterher, hatte keinen einzigen Kilometer Autobahn etc. Vieles hatte den Anschein, gut zu sein, doch der Schein trügte oft.
Die Anekdote, wie Josip Broz seinen Spitznamen bekam, ist wohl bezeichnend für seine Persönlichkeit. “Ti (du) to (das)”, pflegte er seine Kämpfer mit klaren und kurzen Worten zu kommandieren. Die Partisanen bzw. die nach dem Kriegsende in einem 22-Millionen-Einwohnern-Staat verbündeten Jugoslawen tanzten ebenso hörig nach seiner Pfeife. Diejenigen, die aus der Reihe fielen, mussten mit teilweise harten Konsequenzen rechnen. Und nein, Tito duldete keine Gegner. Er war eine Führungspersönlichkeit durch und durch, die auch ohne Inanspruchnahme sündhaft teurer NLP-Kurse ganz genau wusste, wie man die Leute in seinen Bann zieht.
War Tito quasi ein “guter Diktator”?
Es gibt keine guten Diktatoren. Gut und Diktator - das geht sich in demselben Satz nicht aus. Sicherlich war Tito besser als so mancher Diktator aus dieser Ecke Europas. Aber: Jugoslawien war kein demokratischer Staat, Freiheiten waren eingeschränkt. Die Menschen, die sich nicht mit der Politik befasst haben, dürften dennoch ein angenehmes Leben geführt haben. Dennoch bin ich mir sicher, dass wenn die politische Lage in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens besser wäre, die Menschen ein angenehmeres Leben führen könnten als zu Titos Zeiten.
Aber noch einmal: Tito als Persönlichkeiten lässt sich nicht in einem Satz beschreiben. Es lässt sich nicht bestreiten, dass er seine politischen Gegner zu Goli Otok (Anm.: Eine berüchtigte kleine Insel in Kroatien, die zu einem Gefängnis umfunktioniert wurde), dass es kein Referendum vor der Gründung Jugoslawiens gab. Die Geburt dieses Staates wird nicht all ihren 22 Millionen Einwohnern Recht gewesen sein.
War dieser Vielvölkerstaat bloß eine Spielwiese für eine schillernde Persönlichkeit?
Er hatte tatsächlich eine komplexe Persönlichkeit. Erst kürzlich las ich eine Biografie über ihn und nach jedem gelesenen Kapitel fragte ich mich, ob er mich anekelt oder ich ihn nicht doch sympathisch finde. Es ist so wie, wenn man beim Filmschauen dem sympathischen Verbrecher die Daumen drückt. Es ist gar nicht leicht, sich mit seiner Person zu befassen.
Wäre Jugoslawien auch dann zerfallen, wäre Tito zu Beginn der 90er Jahre noch am Leben gewesen?
Die geopolitische Lage war damals im Begriff, sich stark zu verändern. Die Berliner Mauer fiel, die Blöcke fielen. Tito hatte Jugoslawien als eine der führenden Nation in der Bewegung der Blockfreien Staaten etabliert, doch nun wo die Blöcke fielen und NATO kam, ergab diese Bewegung keinen Sinn mehr. Jugoslawien wurde von beiden Seiten gut behandelt - eben deshalb, weil es die Waage zwischen den Blöcken hielt. Mit der neuen Weltordnung verlor Jugoslawien enorm an Bedeutung. Auch ein Tito hätte Anfang der 90er nicht den Fall der Berliner Mauer oder die Auflösung des Warschauer Pakts verhindern können. Die politische Lage änderte sich also drastisch - sehr zuungunsten Jugoslawiens. Dieses Land überlebte überwiegend eben aufgrund der geopolitischen Lage und wurde nicht, wie fälschlicherweise und vereinfacht angenommen wird, von der Liebe zwischen den einzelnen Völkern am Leben erhalten.
Wann wird man denn aufhören, Tito bzw. Jugoslawien nachzuweinen?
Es ist an der Zeit, dass sich die zwei Blöcke - die Tito-Fürsprecher und -Gegner - näherkommen. Man sollte endlich akzeptieren, dass z.B. ein Kroate sein unabhängiges Kroatien hat und es liebt, ohne dass er deswegen von dem anderen als Ustascha abgestempelt wird. Man sollte auch akzeptieren, dass es in Jugoslawien nicht alle gut hatten, dass manche jemanden aus der Familie verloren haben, weil sie von Partisanen erschossen worden sind etc.
Ich finde grundsätzlich, dass man versuchen sollte, neue Lösungen für diese Region zu finden. Die sogenannten Stabilokratien sollten aus meiner Sicht nicht mehr unterstützt werden. Jugoslawien nachzuweinen oder danach zu streben, die ehemaligen Teilrepubliken wieder zu einem staatlichen Gebilde zu vereinen, ist keineswegs die Lösung. Das halte ich für falsch, ja sogar irre.