Leben/Reise

Nordfrankreich: Mit dem Rad von Küste zu Küste

Die Frau im rustikalen Blaumann empört sich: „Non non, c’est interdit!“ – und mit Fahrrädern ist es erst recht verboten! Wir, eine kleine Gruppe Radler, stellen uns dumm, wollen das Schild einfach nicht gesehen haben – aber genau auf der anderen Seite des Kanals liegt das Ziel unserer Begierde: Die einladende Gastwirtschaft im einstigen, entzückend herausgeputzten Schleusenwärterhäuschen der Écluse de Chanclin.

Ihr Englisch ist genauso schlecht wie unser Französisch, aber mit Hand und Fuß einigen wir uns: Die Fahrräder ketten wir an, und wir huschen (theatralisch geduckt, damit sie uns fast nicht sieht) rasch über die verbotene kleine Brücke auf den Schleusentoren. Schlussendlich muss die Französin sogar lachen. Na bitte, dieser bretonische Dickschädel wäre geknackt. Frau Schleusenwärterin widmet sich weiter hingebungsvoll ihrer Gartenarbeit, während wir uns im „La Guinguette de Chanclin“ nahe der Ortschaft Montreuil-sur-Ille laben.

Anreise 
Start in Nantes und Rennes, beide Städte sind ab Paris mit dem TGV erreichbar. Nach Paris per ÖBB-Nachtzug.  Alternativ Flug Wien–Nantes (ab 16. 9. 2024, volotea.com). CO2-Kompensation via atmosfair.de:  24 €

Wer per Drahtesel (oder hoch zu Ross, auf des Schusters Rappen oder per Kajak) dem Kanal Ille-et-Rance im Landesinneren der Bretagne folgt, hat den Eindruck, es tobe ein erbitterter Wettbewerb um das schönste Schleusenwärterhäuschen und um den adrettesten Garten rundum.

Alle Schleusenanlagen – und es sind viele – glänzen wie frisch aus dem Ei gepellt. Dabei ist die gute alte Zeit des Wasserweges längst Geschichte: Die Verbindung zwischen den Flüssen Ille und Rance war eine Reaktion Napoleon Bonapartes auf eine Seeblockade der Engländer, die wieder einmal mit Frankreich im Clinch lagen. So sollten weiterhin Waren von Saint-Malo am Ärmelkanal in die Stadt Rennes gelangen.

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Heute gehört der einstige Schifffahrtsweg nur mehr einzeln versprengten Hausbootkapitänen – und das Einzige, was noch transportiert wird, sind Ruhe, Natur und Idylle. Entlang der üppig bewachsenen Treidelpfade zu beiden Seiten des schmalen Wasserweges stehen Gruppen von Margeriten, gelben Lilien und mannshohem Fingerhut Spalier. So schön wie in einem botanischen Garten – doch es ist die ganz normale bretonische Binnenlandschaft.

Langsame Annäherung

Angestrebtes Ziel jedes Bretagne-Reisenden ist der berühmte Mont-Saint-Michel an der Nordküste (obwohl der – knapp aber doch – in der Normandie liegt). Wer sich diesem Heiligen Berg mit der Abtei des St. Michael an der Spitze andächtig nähern möchte, findet in der Radtour Traversée moderne d’un vieux Pays die perfekte Wahl. Diese „Moderne Reise durch ein altes Land“ (insgesamt 480 Kilometer) startet südlich der Bretagne in Nantes, folgt dem Mündungsdelta der Loire und ein Stück der Atlantikküste, durchquert den Osten der Bretagne und erreicht bei Dinard die Nordküste, um dieser bis zum Mont-Saint-Michel zu folgen.

Radtouren
„Moderne Reise durch ein altes Land“ durch die Bretagne; 480 km. Meist flach, E-Bike empfohlen (Wind!). voyage-en-bretagne.com 
– Kaouann Bretagne  organisiert   Hotels und Gepäcktransfer, individuell u. geführt (engl). kaouann.fr

Schlafen und Essen  
–  Hôtel des Quatre Saisons 2*, Guerande: preiswert. hotelguerande.fr 
– Hôtel  de la Porte Saint-Malo 3*, Dinan:   hotelportemalo.com   
– Hôtel Les Charmettes, Saint-Malo: am Strand. hotel-les-charmettes.com    
– Le Vieux Logis: mit Mittelalterflair, resta urantlevieuxlogis.fr 
– Au Coin de la Breizh: Crêperie 

Auskunft
levoyageanantes.fr, saint-malo-tourisme. com, tourismebretagne.com, france.fr/de

Die Vielfalt entlang der Route ist enorm: Da gibt es urbanen Flair in Nantes oder Saint-Nazaire, romantisches Mittelalter mit Fachwerk und stolzen Burgen bzw. Abteien (Rennes, Guérande, Léhon, Dinan); mondäne Seebäder (La Baule, Dinard) und dazwischen sanft wellige, bewaldete, liebliche Gegend. Je länger die Radreise dauert, umso schöner wird sie, der finale Highlight-Reigen beginnt in Dinan, eine der besterhaltenen mittelalterlichen Städte der Bretagne. Über eine stillgelegte Bahntrasse geht es weiter ans Meer und per Schiff (samt Rad) in die einstige Korsarenstadt Saint-Malo.

Ab nun ist das wilde Spiel der Gezeiten steter Begleiter: Zweimal täglich wechselt die Landschaft komplett. Mal rollen die Wellen nahezu bis an den Radweg heran, sechs Stunden später benötigt man einen Feldstecher, um das Meer zu sehen, und Boote hocken in bedenklicher Schräglage im nassen Sand. Dieser Wechsel ist perfekt für die Austernzucht.

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Günstige Austern

In Cancale ist die begehrte Delikatesse fast so günstig zu haben wie ein Butterbrot und wird gleich vor Ort auf Steinbänken im Hafen geschlürft. Die Eiweiß-Stärkung gibt Kraft für die letzte Etappe entlang der Baie du Mont-Saint-Michel. Links stets das Wasser oder das Watt (je nach Ebbe oder Flut), rechts säumen die idyllischen Granithäuser der Fischerdörfer den Weg. Dazwischen wogt hohes Gras im Wind, Sandbänke blenden im Sonnenlicht und die berühmten Pré-Salé-Lämmer würzen ihr Fleisch beim Weiden der salzigen Kräuter gleich selber. Am Horizont steht einer Fata Morgana ähnlich der Heilige Berg.

Mit diesem Panorama vor Augen ist es ganz egal, dass die „moderne Reise“ hier ruppig über schmale Wiesenpfade durch das Gelände führt. Im Gegenteil: Eigentlich ist es schade, dass wir schon da sind. Diese Tour sollte viel länger dauern!