Ein deutsches Industriedenkmal: Mit einem Fuß im Wes Anderson-Film
Im Tal der Leine, zwischen Hannover und Göttingen, erhebt sich sanftes Bergland, im Tal drängen sich Äcker aneinander. Am Fluss liegt Alfeld. Eine kleine Industriestadt, markant gekennzeichnet durch Industrieschornsteine aus Backstein. Einer davon gehört dem Fagus-Werk. Einer Produktionsstätte, die nach dem zeitlosen Ideal zweier Visionäre 1911, also kurz vor dem Ersten Weltkrieg, entstanden ist.
Am Anfang des Bauwerks stand Carl Benscheidt, Unternehmer und Gründer des Fagus-Werks. Ein Mann mit klaren Lebensgrundsätzen, der sich im Streit von seinem alten Arbeitgeber, der Alfelder Schuhleistenfabriken Carl Behrens getrennt hatte. Er setzte sich zum Ziel, eine auf jeder Ebene bessere Schuhleistenfabrik zu erschaffen. Genau gegenüber.
Als Architekt entschied sich Benscheidt für den damals 28-jährigen und noch unbekannten Walter Gropius, den späteren Bauhaus-Gründer. Bauhaus revolutionierte die Architektur und ist die Synthese aus Kunst und Handwerk. Mit dem Fagus-Werk legte Gropius einen Grundstein für moderne Architektur, die sich erst einige Jahre später entfaltete.
Das Werk in Alfeld liegt bescheiden zwischen Einfamilienhäusern, Gleisen und einer Hauptstraße. Es ist eine Produktionsstätte, die – entgegen dem damaligen Trend – den Menschen selbst in den Mittelpunkt stellt. Benscheidt will eine soziale, moderne Arbeitswelt erschaffen, die sich auf das Wohlbefinden des Arbeitenden konzentriert. Denn ihm ist klar, dass ein gutes Arbeitsverhältnis zu mehr Produktivität führt. Ihn und Gropius verband die gleiche Philosophie: die Verbindung des Funktionalen, in diesem Fall die Industrie, mit der Kunst, dem Menschlichen.
Dessau Dort steht das Demonstrationsobjekt des Bauhaus nach Entwürfen von Walter Gropius. Ein Gesamtkunstwerk, das Architektur, Kunst und Design mit Handwerk und Industrie verbindet
Celle Bauhaus-Interessierte können dort Gebäude des Architekten Otto Haesler besichtigen
Goslar Östlich von Alfeld liegt mit dem ehemaligen Erzbergwerk Rammelsberg ein UNESCO-Weltkulturerbe. Es wurde nach den Bauhaus-Prinzipien erbaut
Große Fassadenfenster fluten die Werkhallen mit Tageslicht. Rund um das Gebäude legt sich ein Grünstreifen, den die Arbeitenden von den Produktionsräumen aus sehen. Das beruhigt das Auge. Die auf den Menschen zentrierte Funktionalität war eine Revolution und mit ein Grund, warum das Werk 100 Jahre nach seiner Eröffnung zum Weltkulturerbe wurde. Auf 3.000 Quadratmetern erzählt eine Ausstellung die Geschichte. Ganz oben, unter dem Dach lädt ein Wald-Raum zum Verweilen ein. Fagus bedeutet Buche und ist essenziell für die Herstellung von Schuhleisten.
Der ockerfarbene Backstein umrandet die damals völlig neuartigen Fassaden aus Glas und Stahl mit ihren stützenlosen Ecken. Der Einblick in die Arbeitsräume durch das Glas erzeugt Transparenz. Arbeit findet nicht mehr im Verborgenen statt. Eine Art bauliches Industriemärchen, das durch seine Symmetrie und sanfte Farbpalette direkt aus einem Wes Anderson-Film sein könnte.