Darf man anderen Eltern Erziehungstipps geben?
Von Axel Halbhuber
Jedes Mal läuft der gemeinsame Spielplatzbesuch gleich ab: Ankunft, die Kinder schwärmen aus, die befreundeten Eltern setzen sich auf die Bank. Nach einer Minute springt A auf und lässt B mitten im Satz zurück, weil ein Kind schreit. Was als gemütliches Ausquatschen unter Freunden gedacht war, endet darin, dass B nun zwei Stunden lange A beim Überwachen des gemeinsamen Spieles der Kinder beobachtet.
Zwei Stunden, in denen B überlegt, wie man diese Gluckenhaftigkeit nun ansprechen könnte.
Anderen Eltern Erziehungstipps zu geben, gilt als Grenzüberschreitung. Sogar die bloße Weitergabe einer Beobachtung wird oft als Angriff auf die eigene elterliche Integrität betrachtet. Dabei ist ein Satz wie "Du schaust aber genau beim Spiel zu" die sanfteste Stufe einer ehrlichen Reflexion. Stufe zwei sind Anordnungsformulierungen im Imperativ ("Lass sie doch einmal alleine spielen"), dann kommt die offene Kritik: "Ich finde, du kreist zu viel über deinem Kind". Danach kommt nur mehr der Drohansatz: "Wenn du das nicht anders machst, muss ich mit wem anderen auf den Spielplatz gehen."
Dabei ist ehrliches Feedback doch eine Pflicht unter Freunden. Warum das bei Kindern nicht oder oft nicht gilt, liegt an der Bedeutung des Nachwuchses und der aktuellen Rollenausgestaltung des Elternseins. Der eigene Nachwuchs ist in der Menschheitsgeschichte das höchste Gut, der Arterhaltungstrieb spielt da ebenso hinein wie der Welpenschutz.
Darf man oder nicht?
Auf der anderen Seite ist Elternschaft heute so sehr Ausdruck des Individualismus wie noch nie. Bis vor knapp 200 Jahren war die Erziehung der Kinder meist gar keine Frage der Eltern, sondern der (familiären oder dörflichen) Gemeinschaft. In besseren Kreisen und besonders dem Adel noch verstärkt und noch viel länger, Kaisers Kinder sahen Mama und Papa ohnehin nur zu Anlässen.
Heute sieht es jede Mutter und jeder Vater als gutes Recht an, die Erziehung des Sprosses so zu gestalten, wie man es im Rahmen der eigenen weltanschaulichen Sicht für gut befindet. So wie Religionen, Ideologien, Musikrichtungen und Ernährungsstil sucht man sich auch seinen Umgang mit den eigenen Genträgern aus, und wer da hineinquatscht, fliegt raus.
Kann man dagegen nichts machen? Darf man einfach nichts sagen?
"Doch", sagt Florian Kochmann. Er ist Pädagogischer Leiter des SOS-Kinderdorfes Hinterbrühl und diplomierter Elternbildner. "Aber nicht in der Situation direkt. Man schmiedet das Eisen besser, wenn es kalt ist." Wann ist dann der richtige Zeitpunkt? "In einem lockeren Rahmen, und auf jeden Fall sehr wertschätzend und achtsam." Das sei besonders wichtig, sonst führe die gut gemeinte Kritik fast zwangsläufig zu einem Streit. Auch Pädagogen reflektieren konkrete Momente erst in Feedbackrunden, "niemals im jeweiligen Augenblick. Man sagt dann respektvoll: Da ist mir etwas aufgefallen ..."
Kritik an fremden Eltern
Immer wieder beobachtet man auch eigentümliches elterliches Verhalten auf der Straße. Fremden mal eben so nebenbei einen guten Ratschlag zu erteilen, ist eine fast aussichtslose Übung, glaubt Kochmann: "Da fehlt die Beziehungsebene. Auf der Straße wirkt so ein Hinweis eher eskalierend." In Freundschaften sollte man Beobachtungen allerdings schon ansprechen können. Mit einer Einschränkung.
Es müsse einem immer bewusst sein, dass man nur eine Momentaufnahme bespricht. "Aufgrund einer Handlung soll man nicht die gesamte Erziehung in Frage stellen." Kann man auch gar nicht, schließlich ergeben sich zwischen Eltern und Kindern Abläufe und Systematiken, die man nicht kennt, nicht einmal als enger Freund.
Außerdem gebe es bei Erziehung kein Schwarz und Weiß, betont Pädagoge Kochmann, der auch einer der SOS-Familientipps-AutorInnen ist (www.sos-kinderdorf.at/familientipps). Bei jeder Kritik ist es also gut, nicht seine eigene Auffassung vom Umgang mit Kindern als Maßstab anzulegen.
Zu guter Letzt rät der Experte zu Gelassenheit, wenn der Kritik nicht gleich die gewünschte Dankbarkeit folgt. "Auch wenn nicht gleich Zustimmung kommt oder vielleicht sogar Ablehnung, fließt so eine Anmerkung oft in die eigene Reflexion ein."
B sollte A also vielleicht doch sagen, dass die Kinder alleine spielen dürfen. Und dann halt einige Zeit den Solo-Spielplatzbesuch in Kauf nehmen. Es wäre den Versuch wert.
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