Kultur

Warum wir uns auch jetzt nicht leisten können, die Kultur beiseitezuwischen

Es war so eine schöne Routine, durch die wir uns gelangweilt treiben ließen, wie man es halt so tut, wenn man es noch nicht besser weiß. Die Kultur fühlte sich bis in die allerfeinsten, an schlechten Tagen dachte man: überflüssigsten Verästelungen des Menschlichen hinein. Irgendwas mit Befindlichkeiten oder Eitelkeiten oder großen, 100 Mal berührten Liebesemotionen ergab gleich einmal 300 Seiten Buch oder einen Kinofilm oder einen Popsong, den man sich ohne große innere Verwerfungen zu Gemüte führen konnte. Welch’ Luxus.

Und dann, mit Einsetzen der Corona-Maßnahmen, wurde all diese Kultur mit einem Schlag zum Archiv. Zum Archiv einer Lebensweise, die sich nach nur wenigen Tagen sozialer Distanzierung schon anfühlt wie ein ferner Traum.

Wie ein Nicht-Normalzustand.

Denn Kultur berichtet über das gemeinsame Leben. Und in den derzeit anstehenden 100 Jahren (?) Einsamkeit ist das wie Science-Fiction in die Vergangenheit.

Man ist beim Lesen, beim Hören, beim Schauen überrascht vom Normalsten. Dürfen diese Weltgrantler bei Thomas Bernhard wirklich stundenlang spazieren gehen?

Sind Krimis – ein Mord, wenn es hochkommt, zwei – nicht angesichts der bitteren Bilder aus den Intensivstationen da draußen irgendwie lächerlich?

War dieser Opernball, vor gerade mal sechs Wochen, real, mit all seinen schwitzenden und ausatmenden und einatmenden Menschen?

Ein Alarmsignal

Derart absurde Rückfragen begleiten derzeit die einfachste Lektüre, das Serienschauen, die Operneinspielung neben dem Homeoffice.

Plötzlich – ein Alarmsignal! – fühlt sich die Kultur wie aus der Zeit gefallen an.

Es ist aber umgekehrt. Zwischen all dem gebannten Starren auf Ansteckungskurven und Totenzahlen, auf die ästhetischen Kurzschlüsse der polizeilichen Raumbeschallung und auf die Klopapierhamsterer gilt es genau jetzt, sich daran zu erinnern: Das echte Leben ist nicht das momentane da draußen. Das echte Leben ist jenes, von dem die Kultur berichtet. So versponnen und luxusproblembehaftet und emotional überspannt sie auch ist.

Die oftmals ungelenken Liebeswirren der Oper. Der Luxus der vielen Buchseiten, die sich mit einem Menschen, einem Schicksal, einem Gedanken beschäftigen. Der Trost der opulenten Bilder im Film. Die drei Minuten Weltflucht in einem gelungenen Popsong. Die vielen Stunden im Computerspiel. All das sind Zeugnisse dessen, was den Menschen ausmachen.

Auch: Das Ausleben von Gegensätzen, von dem die Kultur erzählt. Die Kultur erlaubt es, 1.000 verschiedene Leben zu durchleben, im Kopf des Mörders ebenso Wahres zu finden wie im Normalo von Nebenan. Kultur ist das Gegenteil von sozialer Distanzierung, sie erlaubt uns, das Trennende zu überwinden.

Das ist auch und gerade in der Not kein Luxus, sondern lebensnotwendig. Man darf sich das ruhig notieren, damit man es nicht vergisst: Was bleiben wird, ist die Kultur.

Wobei: Wie, wie viel, wer, vor allem: wann? Das ist weit unklarer, als man sich derzeit eingestehen will.

Aber es ist bemerkenswert, wie schnell aus der abgeschlafften Beziehung, die so gerne mit der Kultur geführt wurde, plötzlich brennende Verlusterotik wird. Das ist gut so: Knapp vor der Scheidung gerettete Beziehungen können stark werden wie vorher nie. Die Sorge, dass wir so bald nicht mehr in die Konzertsäle, die Theater, die staubigen Festivalgründe dürfen, ist bedrückend. Geschenkt, dass das noch vor wenigen Wochen oft nur Unterhaltung, im Abo kaum mehr als ein Kalendereintrag und bei schönem Wetter ein bisserl lästige Pflicht war.

Jetzt ist erst einmal die Stunde der Problemlöser, die Stunde der Praktischen oben wie unten also. Jener Praktischen, die die Kultur gerne als Spielerei, als Beiwerk wegschütten, wenn es um Wichtiges geht. Die muss man ihrer Ämter walten lassen, und man darf dankbar und muss wachsam sein.

Aber die Kultur muss sich nicht scheuen, auch jetzt darauf hinzuweisen, dass sie kritische Infrastruktur ist. Allein, weil auch der Umgang mit dem aktuellen Notzustand nur durch sie ermöglicht wurde: Denn dass wir jetzt voll Mitgefühl für die zu Schonenden zu Hause sitzen, ist eine Geste des Menschlichen. Zu dieser sind wir über Jahrtausende der Kulturwerdung – mit ihren brutalen Brüchen – gekommen.

Man weiß das aus der Geschichte: Genau im allseitigen Zusammenrücken in der Not heißt es, die Kultur zu beschützen. Die Sorge, dass ein Neustart unter dem Diktat des vermeintlich Überlebenswichtigen, der Kritiklosigkeit und des verpflichtenden Zusammenhalts bevorsteht, darf man ruhig pflegen.

Und gerade dann braucht es die Kultur.