Dirigent Welser-Möst: Europa hat sich „zu lange auf Lorbeeren ausgeruht“
Der österreichische Dirigent Franz Welser-Möst war einer der prägenden Klassik-Künstler dieses Jahres. Hier sein persönlicher Rück- und Ausblick, inklusive Kritik an der Kulturpolitik.
KURIER: Sie haben mit Ihrem Dirigat der „Salome“ von Richard Strauss bei den Salzburger Festspielen für einen künstlerischen Höhepunkt des Klassikjahres 2018 gesorgt. Wie sieht Ihre persönliche Jahresbilanz aus?
Franz Welser-Möst: Das war für mich künstlerisch eines der reichsten und auch ereignisreichsten Jahre. Es hat begonnen mit dem 100. Geburtstag des Cleveland Orchestra, mit „Tristan“ in Cleveland und der 9. Symphonie von Mahler in der Carnegie Hall. Es ging mit dem Beethoven-Zyklus in Cleveland, Wien und Tokio weiter, dann kam „Salome“. Und seit Ende August habe ich 25 Konzerte der Wiener Philharmoniker dirigiert, die meisten bei einer Asien-Tournee. Enden wird das Jahr mit einer „Fledermaus“ in Dresden mit Jonas Kaufmann, Elisabeth Kulman und vielen anderen.
2018 wird auch als jenes Jahr in Erinnerung bleiben, in dem ein Neubeginn für den Wiener Musikverein eingeleitet wurde. Intendant Thomas Angyan wird sich nach 32 Jahren zurückziehen. Wie sollte Ihrer Meinung nach die Zukunft für dieses weltberühmte Haus aussehen?
Ein solcher Wechsel an der Spitze ist immer auch eine Chance, grundlegende Dinge zu überlegen, sich neu zu positionieren. Wie hat sich die Klassik-Welt verändert? Ist der Musikverein zuständig für Wien, für Österreich oder für das Genre in der ganzen Welt? Wie nutze ich diesen einzigartigen Saal? Wo soll die Reise hingehen? Darüber muss man nachdenken.
Der Musikverein ist die vielleicht großartigste Institution im Musikbereich, die es gibt, gleichzeitig aber auch eine der verschlafensten. Teilen Sie diese Diagnose?
Als ich Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper wurde, habe ich gesagt: Jetzt geht es darum, das Haus vom 19. ins 20. Jahrhundert zu führen. Noch besser wäre es jetzt für den Musikverein, ihn in das 21. Jahrhundert zu führen.
Sie kommen gerade von einer ausgedehnten Asien-Tournee zurück. Jeder Musikmanager sagt, dort spielt sich die Zukunft ab. Wo steht Europa im Vergleich dazu jetzt?
In China lernen 80 Prozent aller Kinder ein Instrument. Und das nicht als Zeitvertreib. Wo stehen wir als sogenannte Kulturnation im Vergleich dazu? Warten wir nur eine Generation ab, dann hat uns China überholt.
Klingt so, als wären Sie einer Meinung mit Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck, die zuletzt gesagt hat: „Die Gymnasien produzieren oft am Markt vorbei.“
Das ist ein problematischer Satz! Wir reden ja hier von Menschen und nicht von Maschinen. In Gymnasien sollte es nicht um Ausbildung für den Markt, sondern in erster Linie um Bildung gehen. Es ist auch ein zutiefst demokratisches Anliegen, dass Menschen ihren Potenzialen gemäß frei über ihre Zukunft entscheiden dürfen. Ich habe gerade das neue Buch von Yuval Harari gelesen, „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“. Ihm geht es um vier wesentliche Punkte: kritisches Denken, Kommunikation, Zusammenarbeit und Kreativität. Ohne Kreativität können wir nicht erfolgreich sein. Etwas für den Markt zu produzieren, ist das Gegenteil davon.
Wie nehmen Sie die österreichische Kulturpolitik wahr?
Im Moment gehen in meiner Wahrnehmung von der Kulturpolitik und ihren Repräsentanten wenig Impulse aus, auch wenn die Regierung derzeit gute Umfragewerte aufweist. Es wäre dringend nötig, neue Wege in der Kulturpolitik einzuschlagen. Dazu sollte ein intensiver Dialog mit den Kulturschaffenden geführt werden, um dem Anspruch Österreichs als Kulturnation gerecht zu werden. Gleichzeitig wären in verstärktem Maße auch Investitionen nötig.
Sie haben bei den Konzerten Ihres Orchesters in Cleveland ein besonders junges Publikum. Wie haben Sie das geschafft?
20 Prozent unserer Besucher sind jünger als 25 Jahre. Wir bemühen uns extrem um sie, auch mit Social-Media-Aktivitäten. In Cleveland wohnen 400.000 Menschen, 130.000 folgen uns auf Facebook. Das kommt nicht von alleine, da steckt viel Arbeit dahinter. Wir stellen uns immer wieder die Fragen: Was ist unsere Relevanz? Worum geht es uns wirklich? Ginge es nur um Auslastung als Verbeugung vor dem allgemeinen Geschmack, dann würde dies auf Kosten der künstlerischen Qualität gehen. Und genau das ist es, was wir nicht wollen.
Was macht Europa falsch?
Europa neigt zum Jammern und zur Selbstbemitleidung. Besser wäre es, aktiv etwas zu tun. Wir haben uns zu viel lange auf unseren Lorbeeren ausgeruht und es uns in Europa bequem eingerichtet. Es führt aber kein Weg daran vorbei, dass wir uns nun um Innovationen bemühen müssen.
Sie haben als Orchesterchef auch in London gelebt. Ihre Meinung zum Brexit?
Eine einzige Katastrophe für alle Beteiligten.
Info: ZDF zeigt „Die Fledermaus“ am 30. 12. (22.10) aus Dresden. Jonas Kaufmann debütiert als Eisenstein.