Kultur/Buch

Raphaela Edelbauer: Kriegsbegeisterung und Erkenntnistheorie

Ein Tiroler Pferdeknecht liest Victor Hugo und macht am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Bekanntschaft einer Mathematikerin, eines musizierenden Adeligen und einer Psychoanalytikerin, der er seine hellseherischen Fähigkeiten anvertraut. Klingt wahnwitzig. Bei Raphaela Edelbauer geht sich das aber aus. Zumal sich der Hintergrund ihres jüngsten Romans auf historische Tatsachen stützt.

„Die Inkommensurablen“ heißt das neue Buch der 1990 in Wien geborenen Schriftstellerin, die vor zwei Jahren für ihren Roman DAVE mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. DAVE handelte unter anderem von künstlicher Intelligenz und menschlicher Technikgläubigkeit. Einen philosophisch-mathematischen Boden haben nun auch „Die Inkommensurablen“, ein Fachbegriff für sogenannte nicht vergleichbare Zahlen. Forschungsfeld der Erkenntnistheorie-begeisterten Protagonistin Klara, die als eine der ersten Frauen an der Universität Wien promovieren will (der entsprechende Fachvortrag ist im Buch zur Gänze abgedruckt).

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Aus den Fugen

Doch um wissenschaftliche Fachsprache geht es in diesem historischen Roman nur am Rande. Die „nicht vergleichbaren Zahlen“ stehen auch für eine Welt, die gerade aus den Fugen gerät.

Noch ist Wien an diesem 31. Juli 1914 das Zentrum der österreichisch-ungarischen Monarchie. In wenigen Stunden wird man mit weit geöffneten Augen in den Ersten Weltkrieg gehen. Die Kriegsbegeisterung ist überall spürbar, der Westbahnhof „gleicht einer Kaserne! Junge, Alte, Böhmen, Deutsche. Alle melden sich.“ Selbst am Konservatorium mahnt der Professor, dass nun „die Nation vor der Kunst“ kommen müsse – die Studenten sollten sich gefälligst freiwillig melden.

Es brodelt in Wien auch aus anderen Gründen. Armut, fortschreitender Antisemitismus, aber auch die in der Luft liegenden kulturellen Umwälzungen: „Das steife Gewand der alten Welt wurde als erstes in der Kunst zerschnitten,“ schreibt Edelbauer und erzählt von Kultur-Empörungen wie dem „Watschenkonzert“ 1913 unter der Leitung von Arnold Schönberg, bei dem sich das Publikum dermaßen über die zeitgenössischen Kompositionen aufregte, dass es zu Handgreiflichkeiten kam.

Historische Ereignisse sind hier aber nicht nur Kulisse für die Romanhandlung: Die jungen Menschen, von denen Edelbauer berichtet, leben tatsächlich am Vorabend einer Katastrophe – und wir mit Ihnen.

Dass Edelbauer Sprachkunst studiert hat, merkt man dem Roman an. Sie hat Freude am Formulieren, auch an alten Ausdrücken – „Schmalhans war Küchenmeister“. Gespreizt? Nein! Lustvolles sprachliches Ausprobieren! Ein Buch zum Überfliegen das vorliegende jedenfalls nicht. Es verlangt Konzentration und hin und wieder ein wissenschaftliches Wörterbuch. Zumindest für die paar Nicht-Experten auf dem Gebiet der Inkommensurablen.