Gefühlsexplosion: Wie sich Hochsensibilität anfühlt
Etwa 20 Prozent aller Menschen sind hochsensibel, nehmen Reize eindrücklicher wahr und verarbeiten diese intensiver. Das Thema Hochsensibilität wird immer stärker wahrgenommen. Ist dies ein Modewort oder hat es schon immer hoch sensible Personen gegeben?
Julia Fischer: Der Begriff wurde in den 90er-Jahren von Dr. Elaine N. Aron geprägt und erforscht, ist jedoch erst seit etwa 2006 im deutschen Sprachraum bekannt. Nach und nach erlangt das Phänomen der Hochsensibilität jetzt auch bei uns einen höheren Bekanntheitsgrad. Da man herausgefunden hat, dass Hochsensibilität angeboren ist, kann man davon ausgehen, dass es schon immer hochsensible Personen (HSP) gegeben hat. Es liegt nahe, dass diese auch oft bestimmte Rollen in der Gesellschaft eingenommen haben, wie z. B. königliche Berater, Heiler, Wissenschaftler und Künstler.
Wie kann man Hochsensibilität überhaupt diagnostizieren?
Es gibt unter anderem diverse Selbsttests, in denen man sich aufgrund besonderer Merkmale meist schnell wiederfindet. Meiner Meinung nach ist eine Diagnose nicht unbedingt notwendig und erstrebenswert, da es sich bei HS nicht um eine Krankheit handelt, sondern um ein Wesensmerkmal, gleichsam einem individuellen Temperament. Es kann jedoch sehr erleichternd sein, eine Erklärung für bestimmte Ereignisse im Leben zu haben und sich nicht länger „anders als alle anderen“ zu empfinden, sondern zu erkennen, dass es viele gibt, die so „ticken“ wie man selbst.
Wie fühlt sich das Leben als HSP an? Auch aus Ihrer eigenen Erfahrung?
Zeit meines Lebens fühlte ich mich meistens wie ein „Schwamm“, der alle Eindrücke und die Emotionen anderer Menschen um sich herum aufsaugt und immer voller und schwerer wird. Es ist sehr wichtig, sich Zeiten der Ruhe und Entspannung zu gönnen, um den Schwamm auch wieder „auszuwringen“.
Wie äußert sich die Hochsensibilität im Umgang mit Mitmenschen und Umwelt emotional wie auch sinnlich?
Viele berichten, dass sie sich in ihrer Kindheit und Jugend „anders“ und unverstanden fühlten. Es dauert eine Weile, bis man realisiert, dass man die Dinge anders/tiefer wahrnimmt, als die meisten Menschen um einen herum. Manchmal fühlt es sich an, als würde man eine andere Sprache sprechen. Die meisten Hochsensiblen halten nicht viel von Small Talk bzw. brauchen zuerst das Gefühl, wirklich gesehen zu werden (z. B. in einem tiefergehenden, persönlichen Gespräch), um dann auch Small Talk und Blödeleien genießen zu können. Da Reize jeglicher Art (sinnlich und emotional) intensiver verarbeitet werden, kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass ein feierlicher Abend mit Freunden nach einem langen Tag schon einmal zur Herausforderung werden kann. Wenn der vergangene Tag noch nicht einmal verarbeitet wurde, sind zusätzliche Reize wie Geschirrklirren, laute Gespräche und Musik meistens zu viel.
Was sind die Herausforderungen im Alltag für hochsensible Personen?
Da unsere Gesellschaft eine sehr schnelllebige ist, fällt es gerade HSP oft schwer, ihr eigenes Tempo zu leben und sich genügend Erholungsphasen und „Quality Time“ einzuräumen. Das Gefühl, überall „mithalten“ zu müssen, sorgt oft für einen erhöhten Stresspegel, der sich auch in körperlichen Symptomen niederschlagen kann.
Sie schreiben von entsprechenden Kompensationsstrategien, die den Umgang mit der Hochsensibilität einfacher machen sollen. Welche können das sein?
Es kann sehr helfen, im Alltag zwischendurch bewusst „runterzufahren“, den Fokus nach innen zu lenken, um sich Zeit zu geben, das Erlebte zu verarbeiten. Bei Zeitmangel können auch fünf ruhige Minuten am stillen Örtchen oder ein paar tiefe, bewusste Atemzüge Wunder wirken. Ein Wendepunkt für mich war, zu bemerken, wie viele Kleinigkeiten in meiner Umgebung ich eigentlich zu meinem Wohl beeinflussen kann und dass man nicht alles über sich „ergehen“ lassen muss. Schon kleine Dinge, wie das Öffnen oder Schließen des Fensters, mehrere Schichten Gewand für einen Wechsel je nach Umgebungstemperatur, eine griffbereite Flasche Wasser und eine gelegentliche Bitte, das Radio leiser zu drehen, sind nur einige Beispiele, wie man sich das Leben selbstwirksam erleichtern kann.
Wie können vor allem Eltern damit umgehen, wenn ihre Kinder hochsensibel sind?
Wichtig ist, auf Erholungspausen – für das Kind und die Eltern – zu achten und die Nachmittage der Kinder nicht mit Freizeitaktivitäten zuzupacken, sodass keine Zeit mehr bleibt, den Vormittag im Kindergarten oder in der Schule in Ruhe zu verarbeiten. Verständnis zeigen für die Eigenheiten des Kindes, aber trotz allem auch auf klare Rahmenbedingungen und Rituale in der Familie zu achten, sind nur einige Faktoren, die einen entspannten Familienalltag ermöglichen. Viele Eltern neigen zur Überbehütung ihres sensiblen Kindes. Vielmehr unterstützt es das Kind, ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, ohne es zu erdrücken und es in kleinen Schritten zu Neuem zu ermutigen.
Inwiefern ist es möglich, sich die Hochsensibilität abzugewöhnen?
Abgewöhnen per se ist nicht möglich, einen angemessenen Umgang damit zu lernen sehr wohl. Es gibt bestimmt viele Menschen, die versuchen, ihre erhöhte Sensibilität zu verdrängen und auf Biegen und Brechen überall mitzuhalten. Das macht sich jedoch oft irgendwann körperlich – in Form von chronischen Beschwerden – bemerkbar. Klar abzugrenzen ist die angeborene Hochsensibilität von einer stärker ausgeprägten Sensibilität nach einem Trauma, die sich nach entsprechender Verarbeitung des Erlebten wieder reduzieren kann. Wie wirkt sich Hochsensibilität auf den Körper und dessen Bedürfnisse aus? Natürlich haben hochsensible Menschen ähnliche körperliche Bedürfnisse wie alle anderen. Viele reagieren jedoch z. B. empfindlicher auf Wärme und Kälte sowie auf Berührungen. Eine erhöhte Empfindlichkeit bzw. Neigung zu Allergien ist auch bei Nahrungsmitteln und Kosmetika zu beobachten. Eine gesunde Balance und Ausgewogenheit ist hier das A und O.
Inwiefern können Hochsensible auch von der Hochsensibilität profitieren?
Wenn die Reizzufuhr ausgewogen ist, und man lernt, in einem Wechselspiel aus An- und Entspannung zu leben, nehmen HSP auch die schönen Dinge wie persönliche Beziehungen, Natur, Musik und Kunst viel intensiver wahr und sind in der Lage, sich tief berühren zu lassen. Zudem verfügen viele HSP über Fähigkeiten, die bei der Wahl einer passenden Arbeit sehr dienlich sein können. So nehmen sie Details und Unstimmigkeiten schnell wahr, finden schnell kreative Lösungen und sind in der Lage, Prozesse effektiv und menschlich zu gestalten. Meiner Meinung nach Fähigkeiten, die in Führungsebenen durchaus öfter vertreten sein könnten. Dazu ist es jedoch wichtig, dass HSP einen Umgang mit ihrer Sensibilität lernen und sich trotz der oftmals Überhand nehmenden Zweifel auch trauen, ihre Stärken zu leben.
Was ist Ihre Erfahrung im Umgang mit anderen hochsensiblen Personen?
Ich habe oft beobachtet, dass Menschen, die von ihrer Hochsensibilität erfahren, dazu neigen, im Selbstmitleid zu versinken. Anstatt diese Veranlagung immer wieder als Ausrede zu benutzen, möchte ich dazu ermutigen, das eigene Leben selbstwirksam zu gestalten und sich eine Umgebung zu schaffen, in der man seine sanfte Stärke gut nutzen und ausleben kann.
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