Der Druck auf Kinder steigt: Wie ihnen geholfen werden kann
Von Ernst Mauritz
„Man kann nicht sagen, dass früher alles besser war und heute alles schlechter ist. Was sich aber für Kinder und Jugendliche schon verstärkt hat ist der Druck, möglichst früh erwachsen zu werden.“ Das sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Andreas Karwautz von der Uni-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni / AKH Wien. Er ist Präsident des Europäischen Kongresses für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ESCAP), der vom 30.6. bis 2.7. in der Wiener Hofburg stattfindet – es ist der größte Kinderpsychiaterkongress, der je in Österreich stattgefunden hat. Mehr als 1500 Teilnehmer aus 71 Ländern werden erwartet. Vor 44 Jahren fand dieser Kongress zuletzt in Wien statt.
KURIER: Ist es für Kinder und Jugendliche heute schwieriger, erwachsen zu werden als vor 20, 30 Jahren?
Andreas Karwautz: Meine Beobachtung ist: Sie werden heute früher in soziale Rollen geschoben. Der Druck, möglichst früh erwachsen zu sein, früher weiblich oder männlich zu sein, Rollenbilder zu erfüllen, ist heute höher. Das heißt aber nicht, dass sie das auch tatsächlich sind. Die Diskrepanz zwischen dem, was man sein soll – bzw. was einem die Peer Group (Gruppe gleichaltriger Jugendlicher, Anm.) suggeriert, etwa in Bezug auf Kleidung und Aussehen – und dem, was sie sind, wird größer. Denn heute werden viele Jugendliche tendenziell sogar etwas später erwachsen als vor 20 Jahren, ziehen nicht schon mit 18 aus, sondern führen erst einige Jahre später ein selbstständiges Leben.
Welche Rolle spielen dabei die sozialen Medien?
Ich hatte kürzlich eine junge Patientin mit einer schweren Essstörung, die gesagt hat, sie habe sich – auch als Konsequenz ihrer Erkrankung – von allen sozialen Medien wie Instagram oder Facebook abgemeldet. Die ständigen Nachrichten, darunter nicht nur Lob, sondern auch viel kränkende Kritik bezüglich des Aussehens: das war ihr zuviel. Das ist ein mutiger Schritt für eine Jugendliche, weil sie damit ja auch von vielen Kontakten zu ihren Freunden abgemeldet ist. Früher ist die Sozialisierung Jugendlicher großteils über direkte Kontakte und das Telefon abgelaufen. Emotionen konnten ausgesprochen und erklärt werden. Jetzt werden in Nachrichten rasch zwei, drei Halbsätze hingeschrieben, die oft falsch verstanden werden und heftige Emotionen auslösen können. Eine ebenso hingeschleuderte Antwort kann eine Auseinandersetzung rasch aufschaukeln. Man kann einfach über diese Kanäle keinen Konflikt lösen. Das geht nur über das persönliche Gespräch. Dieses aber gehört geübt – sonst weiß man gar nicht mehr, wie das funktioniert. Und das kommt vor.
Die Erwartungen an Kinder und Jugendliche sind also gestiegen?
Den Eindruck habe ich. Noch ein anderes Beispiel: Weil der Ruf der Neuen Mittelschule etwa in Wien nicht so gut ist, drängen viele Eltern auf einen AHS-Platz – obwohl eine gute Mittelschule für ihr Kind vielleicht die bessere Alternative wäre. Von Frauen wird heute verlangt, im Beruf Karriere zu machen und gleichzeitig Kinder zu bekommen. Nicht, dass da etwas grundsätzlich dagegen spricht: Aber es ist nicht so leicht, wie es oft dargestellt wird. Es ist für Wohlhabende leichter als für Ärmere. Erstere können sich eine Kinderbetreuung leisten. Solche, oft auch nur indirekt vermittelten Erwartungen an künftig zu erbringende Leistungen können – wenn die genetischen Grundlagen vorhanden sind – das Risiko für psychische Erkrankungen deutlich erhöhen. 60 Prozent des Risikos für Anorexie (Magersucht) können den Genen zugeschrieben werden. Kommt dann zu einer solchen genetischen Anfälligkeit ein Trauma oder eine Entwicklungsproblematik so wie vorhin beschrieben dazu, kann eine psychische Erkrankung die Folge sein.
Steigt die Zahl der Betroffenen?
Das wird immer wieder behauptet, aber es gibt international keine wirklich belastbaren Zahlen. Die Untersuchungsmethoden und der Untersuchungsumfang haben in den vergangenen 20, 30 Jahren immer wieder gewechselt. Aber die Zahl der Betroffenen ist auch schon so groß genug: Laut unserer großen Studie zur Häufigkeit von 27 psychischen Krankheitsbildern gemeinsam mit dem Ludwig Boltzmann Institut (MHAT-Studie) ist ein Viertel aller jungen Menschen in Österreich zum aktuellen Zeitpunkt von einem psychischen Gesundheitsproblem betroffen.Bei Mädchen sind Angststörungen am häufigsten, bei Buben ADHS und Verhaltensauffälligkeiten wie Impulskontrollstörungen.
Was wir an unserer Klinik sehen, ist, dass der Schweregrad der Erkrankungen bei uns zunimmt. Aber das kann auch mit den immer noch bestehenden Mängeln in der Versorgung zu tun haben: Wenn uns etwa in Wien 50 Prozent der notwendigen stationären Plätze fehlen, können wir – aufgrund dieses Bettenmangels – ja auch nur die schwersten Fälle aufnehmen. Wobei es schon auch Verbesserungen gibt: In Wien haben wir mittlerweile sechs niedergelassene Kinderpsychiater mit Kassenvertrag, aber in Niederösterreich – mit ungefähr der Hälfte der Einwohnerzahl von Wien – sind es neun. Und in der Steiermark haben wir nach wie vor keinen einzigen.
Wie vielen Kindern und Jugendlichen können Sie helfen?
Sehr vielen. Zumal bei Kinder und Jugendlichen die Chancen, etwas zu bewirken, noch größer sind als bei Erwachsenen. Und wir haben einen sehr ganzheitlichen Ansatz: Kognitive Verhaltenstherapie, Beziehungsarbeit, Wissensvermittlung, das Einüben von bestimmten Handlungsweisen, Familienarbeit und – wenn notwendig – auch Medikamente. Weil es sich um schwere Erkrankungen handelt, ist zu Beginn der Therapie oft auch ein stationärer Aufenthalt notwendig – die Behandlungen sind aufwendig und zeitintensiv. Aber wir können noch nicht alle heilen: Unsere Erfolgsquote bei Magersucht etwa liegt zwar bei 80 Prozent, aber 20 Prozent kann weltweit nicht wirklich nachhaltig geholfen werden. Deshalb sind wir ständig auf der Suche nach neuen Ansätzen.
Ein Beispiel?
Es gibt ein paar Studien, die positive Effekte von Probiotika – also Milchsäurebakterien – bei der Anorexie zeigen. Es gibt die Theorie, dass die Probiotika eine Wirkung auf das Gehirn haben, aber weltweit hat das noch niemand bei Anorexie-Patientinnen untersucht. Wir machen jetzt im Rahmen einer Studie bei solchen Patientinnen mehrere sogenannte funktionelle Magnetresonanzuntersuchungen, um feststellen zu können, ob durch regelmäßigen Probiotikakonsum nachweisbare Änderungen der Gehirnaktivität auftreten – und wenn ja, welche. Vielleicht hilft dieser Ansatz einmal einigen Prozent jener Patienten, bei denen derzeit nichts greift.
Wie hoch ist der Prozentsatz jener, die eine psychische Erkrankung haben und eine Therapie bekommen?
Bei den „lauten“ Störungen, die jedem auffallen, wie etwa ADHS, erhalten mehr als 60 Prozent der Betroffenen eine Behandlung. Was aber aus unserer großen Studie als alarmierend hervorgegangen ist: Bei den stillen Störungen – Kindern mit suizidalen Verhaltensstörungen, Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten, Angststörungen – liegt die Behandlungsquote bei maximal 25 Prozent. Diese fallen lange nicht auf, in der Schule nicht und zu Hause auch nicht.
Was können Eltern tun?
Hinschauen, mit ihren Kindern in Kontakt bleiben, nicht nebeneinander, sondern miteinander leben. Das klingt banal, passiert aber oft nicht. Natürlich ist es oft schwierig zu erkennen, welche Veränderung im Jugendalter ist ganz normal, welche könnte krankhaft sein. Gerade deshalb ist der regelmäßige Austausch so wichtig.
Und wenn ein Kind bereits erkrankt ist, welche Rolle haben dann die Eltern?
Ohne Mithilfe der Eltern geht nichts. Wir haben ein eigenes Workshop-Programm entwickelt, wo wir etwa Eltern von Kindern mit Essstörungen zunächst vermitteln, dass sie nicht schuld an der Erkrankung ihres Kindes sind. Und wir schulen sie in Fertigkeiten zum Umgang mit der Erkrankung ihres Kindes und zur Bewältigung der eigenen schwierigen Situation. Alle diese Themen werden übrigens auf dem ESCAP-Kongress angesprochen.
Ist das Verständnis für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen gestiegen?
Ja. Die Stigmatisierung ist in vielen Bereichen zurückgegangen. Früher waren unsere Kinder die Komischen, die Schlimmen und die Bösen. Heute sehen doch viele, dass es sich um Kinder mit wirklich schweren Erkrankungen handelt, die Hilfe und intensive therapeutische Begleitung benötigen.