„Warum beide Beine?“
Vor Ihrer Operation im Jahr 1990 gab es die Hoffnung, dass Ihre Krankheit Waterhouse-Friderichsen-Syndrom noch nicht so stark ausgeprägt ist und vielleicht Zehen amputiert werden müssen. Leider kam es anders – was geht einem nach so einem Schicksalsschlag durch den Kopf?
Erich Artner: Nach Tagen im künstlichen Tiefschlaf und vollgepumpt mit Medikamenten realisierte ich im ersten Moment gar nicht, was es eigentlich bedeutet, ein 15-jähriger pubertierender Junge mit einer Sportleidenschaft, aber ohne Beine zu sein. Es brauchte Zeit, bis ich erkannte, dass sich mein Leben in Zukunft grundlegend verändern wird.
War diese Amputation nicht vermeidbar?
Leider nein, denn das Waterhouse-Friderichsen-Syndrom ist eine Infektionskrankheit, die nicht nur selten ist, sondern auch unglaublich schnell den Körper angreift und zum Tod führen kann. Die ersten Symptome zeigten sich erst wenige Tage vor der Operation. Anfangs fühlte es sich wie eine Erkältung an. Der Hausarzt meinte auch, es könnte eine Grippe sein, aber die Symptome wurden im Laufe des Tages immer schlimmer und meine Haut verfärbte sich rot. Meine Mutter zögerte nicht und entschied, dass wir umgehend ins Krankenhaus fahren.
Der heute 46-jährige Extremsportler und Versicherungsagent verlor im 15. Lebensjahr beide Beine wegen einer Erkrankung mit dem Waterhouse-Friderichsen-Syndrom. Den Weg zurück ins Leben fand er mit dem Sport. Nach seiner Matura und einem Masterlehrgang an der UNI Wien startete er eine Berufslaufbahn bei der Allianz Österreich. 2016 machte er sich als Versicherungsagent selbständig. Der Vater von zwei Töchtern ist heute ein gefragter Keynote-Speaker und referiert über die Themen Veränderung und Inklusion.
Wie wurde diese seltene Erkrankung diagnostiziert?
Im Wiener Wilhelminen Spital fand an diesem Tag die Weihnachtsfeier statt und ich hatte Glück, denn nahezu alle Ärzte waren vor Ort. Der Primarius erkannte sofort, dass es sich um die sehr selten auftretende Krankheit handelt. Ich wurde zwar umgehend an ein Dialyse-Gerät angeschlossen und für zehn Tage in künstlichen Tiefschlaf versetzt, aber in dieser Zeit sind meine beiden Beine abgestorben und mussten entfernt werden. Ich überlebte nur knapp, freue mich darüber heute umso mehr.
Wie schafft man es, nach so einem harten Schicksalsschlag wieder Lebensmut zu fassen?
Hier gab es keinen lebenseinschneidenden Moment bei mir, vielmehr war das ein Prozess mit Höhen und Tiefen. In der ersten Phase ist man noch sehr mit der Krankheit beschäftigt und mit dem Anpassen der Beinprothesen. Man muss lernen, mit dem Umstand zu leben. Ständig muss man sich neuen Situationen stellen und diese bewältigen – das war unglaublich kräftezehrend. Aber meine Familie und meine Freude sind mir zur Seite gestanden. Sie haben mich emotional über diese schwierige Anfangszeit hinweggetragen und mir Kraft gegeben. Dafür bin ich unheimlich dankbar.
Als ich beim ersten Ironman über die Ziellinie gelaufen bin, war ich ein anderer Mensch. Danach bin ich mit meiner Behinderung anders umgegangen
Extremportler und Versicherungsagent
Stellt man sich in dunklen Momenten nicht auch die Frage: Warum ich?
Interessanterweise stellte ich mir nicht die Frage „Warum ich?“, sondern ich stellte Gott immer wieder die Frage „Warum beide Beine?“. Hätte ich nur ein Bein verloren, wäre das Leben schon deutlich einfacher gewesen. Diese Frage hat mich über Jahre begleitet.
Sie sind jetzt 46 Jahre alt. Sind Sie mit sich im Reinen?
Mal abgesehen von den üblichen Herausforderungen des Lebens, mit denen jeder Mensch zu kämpfen hat, bin ich mit mir im Reinen. Für mich entscheidend war der Sport, der mich zurück ins Leben führte. Zuerst spielte ich Rollstuhlbasketball. Das habe ich sehr ernst betrieben und war sogar Teil des österreichischen Nationalteams. Danach folgte der Ausdauersport, wobei ich mich auf den Triathlon fokussierte. Anfangs waren es noch kurze Distanzen, 2014 schaffte ich dann erstmals den Ironman. Dabei müssen 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und ein Marathon bewältigt werden. Ich schaffte es in 12 Stunden 12 Minuten – und das mit Beinprothesen. Darauf bin ich wirklich stolz.
Die CharityCyclingChallenge ist ein Verein, der auch mit großer Unterstützung von Erich Artner, die Leidenschaft seiner Mitglieder zum Radsport, mit dem Wunsch nach der Linderung von ganz besonders schlimmen Schicksalsschlägen verbindet. Dabei sammeln die Mitglieder bei Extrem-Radsport-Projekten (Fahrten von Wien-Rom, Wien-Barcelona, Wien-Nizza, …) Geld für Menschen, die es im Moment besonders schwer haben. Über die Rad-Touren wird Aufmerksamkeit generiert, die für die Spender und Sponsoren-Ansprache genutzt wird. Jeder Cent geht eins zu eins an jene Menschen und Familien, die gerade einen ganz besonderen Schicksalsschlag erlitten haben.
Infos unter: www.facebook.com/CharityCyclingChallenge2019/
Hat die Bewältigung dieser unglaublich langen Wettkampfstrecke bei Ihnen etwas verändert?
Als ich beim ersten Ironman über die Ziellinie gelaufen bin, war ich danach ein anderer Mensch. Einerseits war ich glücklich, so einen Wettkampf zu bestehen, und andererseits bin ich danach mit meiner Behinderung ganz anders umgegangen. Das zeigte mir, dass ich Dinge schaffen kann, die selbst Menschen mit beiden Beinen kaum schaffen.
Gibt es sportliche Herausforderungen, denen Sie sich noch stellen wollen?
Schön wäre es natürlich, einmal bei Ironman auf Hawaii zu starten. Aber das ist ein Mythos, dem alle Ironman-Teilnehmer anhängen (lacht). Viel wichtiger für mich ist es, dass ich mit der Charity Organisation, die ich mitbegründet habe, in den nächsten Jahren Erfolg habe.
Was hilft Ihnen dabei, sich für solche Herausforderungen zu motivieren?
Grundsätzlich macht mir Bewegung an der frischen Luft sehr viel Freude. Nach einem langen Arbeitstag eine Stunde laufen gehen macht den Kopf frei. Die Ruhe genießen, die frische Luft atmen und den Körper und die Natur spüren, ist schon eine riesige Motivation für mich. Bei großen Wettkämpfen hilft es mir, mein Ziel zu visualisieren. Ich stelle mir in allen Details vor, wie es sein wird, wenn ich die Ziellinie überschreite. Besonders beim ersten Ironman war das ein starker Antrieb. Es hatte mir damals unglaublich geholfen, die unzähligen Trainingseinheiten durchzustehen.
Heute sind Sie Versicherungsagent und ein gefragter Redner. Welche Themen stehen im Zentrum ihrer Vorträge?
Neben meinem Job als Versicherungsagent bin ich Vortragender zum Thema Veränderung – wie es beispielsweise ist, wenn sich das Leben schlagartig ändert. Ich versuche Menschen zu helfen, den Weg zurück ins Leben zu finden. Ich erzähle ihnen von meinen Erfahrungen und mache Mut. Es geht dabei viel um mentale Stärke – zu hören beispielsweise auch im Podcast der Allianz. Auf der anderen Seite mache ich Vorträge zum Thema Inklusion, also wie ein Miteinander aller Menschen, unabhängig von Herkunft, Behinderung, sexueller Orientierung oder Lebensalter möglich ist. Ich habe am eigenen Leib erlebt, wie es ist, von einem Tag auf den anderen vom Zentrum des Universums zu einer vermeintlichen Randgruppe abzusteigen.
Hätten Sie sich je ein anderes Leben gewünscht?
Heute kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass ich mir kein anderes Leben wünsche. In den Tagen nach der Operation wäre das natürlich gelogen gewesen. Und heute kann ich auch die Frage „Warum beide Beine“ beantworten. Beim Betreten eines Redner-Podiums ist es mir klar geworden: Damit ich anderen Menschen Mut machen und sie inspirieren kann. Nur durch den Verlust meiner beiden Beine führe ich mein Leben so, und nicht anders.
Die Allianz Österreich setzt als Gesundheitsversicherer nicht nur auf körperliche, sondern auch auf die mentale Gesundheit. In ihrer Podcast-Serie erzählen vier Protagonisten, einer von ihnen ist Erich Artner, von Krisen in ihrem Leben und warum mentale Stärke stets der Schlüssel zu ihrer Bewältigung ist. Die Podcast-Serie soll Mut machen und Möglichkeiten zur Förderung der mentalen Gesundheit aufzeigen. Die Podcasts sind über gängige Streaming-Apps und auf der Homepage der Allianz abrufbar:
www.allianz.at/podcast