Wien und seine Radfahrer: Konflikte gibt es schon seit 130 Jahren
Von Katharina Zach
„Abenteuermaschinen“ nannten sie manche. Doch für andere waren sie nur abenteuerlich. Unnatürlich schnell waren die Menschen mit den neuartigen Vélocipèden. Und rücksichtslos. Die Zeitungen waren voll von Berichten über Fahrradfahrer, die Fußgänger und Pferde erschreckt haben sollen – manche Dinge ändern sich eben nie.
Es sind die 1890er-Jahre und in Wien wird ein neues Transportmittel populär. Das Fahrrad. War wenige Jahre zuvor noch das Hochrad angesagt, kamen nun Gefährte mit zwei gleich großen Rädern auf den Markt und machten das Radfahren massentauglich. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger war es kein elitäres Fahrzeug für draufgängerische Aristokratensöhne (ein Sturz vom Hochrad war gefährlich).
„Auch das untere Bürgertum konnte es sich leisten“, erklärt Bernhard Hachleitner. Der Historiker muss es wissen. Mit mehreren Autoren wie Michael Zappe und der Wien Bibliothek arbeitete er für das Buch „Motor bin ich selbst – 200 Jahre Radfahren in Wien“ die Geschichte auf.
Vom Laufrad zum Rad
1817 erfand der deutsche Forstbeamte Karl Drais die Laufmaschine – ein Gefährt ähnlich dem heutigen Laufrad. Seine Idee wurde in ganz Europa kopiert. „So wurde er nicht reich, aber überall tauchten Laufmaschinen auf“, erklärt Anne-Katrin Ebert vom Technischen Museum.
Spielzeug der Aristokratie
Schon das Laufrad, aber auch das um 1860 in Frankreich erfundene Vélocipède mit Pedalen am Vorderrad waren ein Phänomen der Aristokratie. Die Fahrradindustrie fasste in England Fuß, es wurden Hochräder, Dreiräder, Tandems gebaut. Besonders erstere waren ein Vergnügen für waghalsige junge Männer.
Die Tandems waren sonntags in den Parks für die Brautschau beliebt, man konnte eine Dame einladen und ohne Blicke der Gouvernante eine Runde drehen. Ab 1890 wurde das handlichere Niederrad mit Kette zum Standard
Das beliebte „Bicycle“
Viele Räder, auch jene der Wiener damals, kamen aus England. Dank der Stahlindustrie waren die Räder wertiger. Viele Bräuche der Briten wurden in Wien übernommen, etwa die Gründungen von Bicycle-Klubs. Viele Anglizismen fanden Einzug in den Sprachgebrauch. „Noch heute werden ja die Räder in Zoll gemessen“, sagt Ebert
Das neue Gefährt begeisterte sofort die Wiener Schickeria. Künstler und Schriftsteller wie Arthur Schnitzler brausten fortan auf zwei Rädern umher, andere taten es ihnen nach.
Vor allem für die Frauen brachte es Freiheit und einen Emanzipationsschub. Plötzlich konnten sie sich unabhängig und rasch fortbewegen. Und weil man mit einem langen Kleid nicht radfahren konnte – selbst wenn versucht wurde, Gewichte im Saum einzunähen –, entstand neue Mode, nämlich Hosenröcke und später sogar (Skandal!) Bundhosen.
Die Menschen entdeckten Ausflüge mit dem Rad für sich. Zu den ersten Radfahrklubs kamen zahlreiche weitere. 1888 gab es bereits 13 mit mehr als 700 Mitgliedern. Um die Jahrhundertwende legten sie die ersten Radwege in Wien an. Erlaubt waren diese aber nur am Stadtrand.
Führerschein fürs Rad
Denn das neue Vélocipède oder Bicycle war umstritten. Einfach fahren wo es einem beliebte? Das ging damals nicht. Radfahrer sahen sich vor der Jahrhundertwende mit strengen Regeln konfrontiert, bei Verstößen drohten drakonische Strafen.
Das Bicycle galt als Sport- und nicht als Transportmittel. „Nur auf Radwegen und einzelnen Straßenzügen oder etwa im Prater durfte man fahren“, erzählt Hachleitner. Zuvor musste aber ein Kurs besucht und ein Erlaubnisschein gelöst werden. 1896 waren 12.694 solcher Scheine ausgestellt worden.
Erst der Erlass des nö. Landesstadthalters und begeisterten Radfahrers Graf Erich von Kielmannsegg endete wenig später diese Praxis.
Die Beliebtheit des Rads nahm zu. Um 1900 gab es entlang des Gürtels sogar einen Zweiwege-Radweg. „Da war Wien eher vorne dabei – im Unterschied zu heute“, erklärt Stadthistoriker Sandor Békési vom Wien Museum, der sich seit 20 Jahren mit dem Thema befasst.
Im frühen 20. Jahrhundert bekam das Rad von einer neuen Spielerei Konkurrenz: dem Automobil. Das Interesse an zwei Rädern ließ nach. Und nach dem Ersten Weltkrige gab es sowieso einen Mangel an allem.
„Erst in den 30er-Jahren gingen die Zahlen der Radfahrer wieder nach oben“, sagt Hachleitner. Es gab einen regelrechten Boom. Erfasste eine Zählstelle am Karlsplatz im Durchschnitt 1925 noch 315 Radler pro Tag, waren es 1937 bereits 8.083 (bei der Zählstelle Operngasse waren es 2019 im Schnitt 3.492). 1934 wurde eine Nummerntafelpflicht eingeführt, 1936 gab es 200.000 Fahrräder in der Stadt.
Dass Wien dennoch nicht zu einer Fahrradmetropole wurde, hat laut Historikern vielfältige Ursachen. „Schon in der 1. Republik hat sich die Sozialdemokratie mit dem Thema schwer getan“, sagt Hachleitner. Zwar waren die Radler des „Arbeiter-Radfahrer-Bund Österreichs“ – dem heutigen Arbö – gerne bei Aufmärschen gesehen, doch „für die Alltagsmobilität hat das rote Wien das Radfahren nicht gefördert“, sagt Békési.
Auto als Freiheit
Lieber setzte die Stadt auf den Ausbau der Öffis. Dazu kommt, dass in Wien traditionell viel zu Fuß gegangen wurde. Die Stadt ist kompakt, Wohnort und Arbeitsplatz lagen damals oft nah beieinander. Und mit der Etablierung des Autos war die Motorisierung für die Sozialdemokratie auch ein Symbol für Fortschritt und die Gleichstellung der Arbeiter.
Erst während der Zeit des Austrofaschismus ab 1934 wurden erste Radwege für das Rad als Transportmittel gebaut. Etwa auf der Lassallestraße oder der neuen Wientalstraße. Dafür wurden – dank Taferlplicht – Steuern aufs Radfahren eingehoben.
Rad weg von der Straße
Auch im Nationalsozialismus wurde die Infrastruktur aufgerüstet. Allerdings um die Radfahrer von der Straße wegzubekommen. „Das ist ein Punkt, der sich bis heute durchzieht“, meint Hachleitner.
In den 1950er-Jahren drängte schließlich die Motorisierung das Rad zurück. „Ab den 50er Jahren wurden Radwege sogar demoliert, um Straßen zu verbreitern“, berichtet Stadthistoriker Békési. „So ist Wien Mitte der 1970er-Jahre bei elf Kilometer Radweg gelandet.“
Erst in den 1980er-Jahren mit dem Aufkommen der Umweltbewegung erlebte das Rad wieder einen Impuls. „Die erste Radwegplanung in der 2. Republik gab es in den 80ern“, berichtet Historiker Hachleitner. „Aber nur am Stadtrand für das Rad als Freizeitgerät. Etwa auf der Donauinsel.“ Die Geschichte wiederholt sich eben gerne.
Dank der Sportartikelindustrie mit der Entwicklung von Rennrädern oder Mountainbikes und gesellschaftlicher Entwicklungen gab es dann in den 90ern ein Revival. Die Hipsterbewegung machte das Rad wieder „in“. Und auch das Bewusstsein dafür, dass Radeln gesund ist, stieg.
Von einem Durchbruch könne man aber nicht sprechen, so Békési. „Wir sind nach fast 40 Jahren Radverkehrsförderung noch immer bei sieben Prozent Radanteil. Da geht nicht viel weiter“, sagt der Experte.