Chronik/Wien

Die U6 und die Dealer: Eine Lösung, die keine ist

"Und da rechts seht's ihr gleich die erste Amtshandlung", sagt Polizeisprecher Christoph Pölzl. Der schwarze VW-Transporter der Polizei hält vor der U-Bahnstation Josefstädter Straße, eine Traube an Journalisten steigt aus und überquert die Straße. Dort kontrollieren mehrere Polizisten zwei junge Schwarze, die beide eine Tüte Eis in der Hand haben. Notizblöcke werden gezückt, Kameras klicken. Einer der beiden Schwarzen ist in Rage, die plötzliche Ansammlung von Menschen irritiert ihn noch mehr. "Come on, arrest me!", schreit er, dreht sich um und überkreuzt seine Hände. "Just 'cos I'm black." Sein Eis landet irgendwann am Boden und rinnt den Gehsteig entlang.

Sein Begleiter steht ruhig daneben, er wirkt so, als würde er sich jetzt gar nicht mehr auskennen, irgendwann sagt er zu den im Halbkreis um ihn herumstehenden Journalisten: "Why are you doing this? Please don't take pictures." Manchen Journalisten ist die Situation sichtlich unangenehm, andere halten weiter drauf. Drogen wurden bei den Beiden nicht gefunden, inzwischen ergibt eine Nachfrage bei der Zentrale, dass auch sonst nichts gegen sie vorliegt. Sie dürfen weitergehen. "Das ist der skurrilste Medientermin, auf dem ich je war", sagt ein Kollege.

Mit der Polizei auf Dealerjagd

Eine Stunde zuvor sitzt Polizeisprecher Roman Hahslinger hinter einem Pult des Besprechungszimmers im Dachgeschoss des Landespolizeikommandos Wien und erklärt rund 30 Journalisten, was heute passiert. "Schwerpunktaktion zur Bekämpfung des Drogenhandels im öffentlichen Raum" nennt sich der Termin; Medien sind dazu eingeladen, die Polizei bei ihrer Arbeit zu begleiten. Auf zu viel sollten die Medienvertreter aber nicht hoffen, viele Drogendealer seien nicht zu erwarten, wenn so viel Polizei und so viele Journalisten aufkreuzen. Ein bisschen so, als wäre eine Safari angesagt und Drogendealer die zu erspähenden Attraktionen.

"Aber wir werden schauen, dass wir ein paar Festnahmen zusammenkriegen", sagt Hahslinger. "Meinen die das ernst?", raunt eine Kollegin. Tun sie. Und so steht eine Gruppe von Journalisten also in Polizeibegleitung auf der Josefstädter Straße. Die U6-Stationen entlang des Gürtels gehören neben dem Praterstern und dem Handelskai zu jenen Flecken in Wien, die seit Monaten in den Medien sind – weil es dort gefährlich zu sein scheint, weil es dort angeblich einen Hauch von Ghetto zu verspüren gibt, weil dort etwas zu kippen scheint.

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Ein neues Gesetz soll das Problem lösen

Seit knapp einer Woche ist nun ein Gesetz in Kraft, das explizit auf den Drogenverkauf im öffentlichen Bereich abzielt. Es belegt diesen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren. Das war laut Polizei vor allem notwendig, um den ausufernden Verkauf von Drogen entlang der U6-Stationen am Gürtel einzudämmen. Nun läuft die Polizei also mit Journalisten im Schlepptau durch das Problemviertel; und weit und breit sind keine Drogendealer zu sehen. Die Botschaft hinter der Aktion: Seht her, alles wieder gut. Die Novelle wirkt. Wurde hier ein Problem erkannt, angepackt und schnell gelöst? So schön es wäre, die Antwort ist nein.

Das beginnt damit, dass das Problem nie so groß war, wie Polizei und manche Medien behaupteten. Michael Dressel, Drogenkoordinator der Stadt Wien, hält die Aufregung für überzogen; es sei "ein Problem in einem sehr überschaubaren Bereich"; das vor allem von den Medien aufgeblasen wurde, deren Berichterstattung "ein bisschen an der Realität vorbeigeht." Nicht dass er etwas anderes erwartet hätte: "Ich bin schon lange in dem Geschäft und immer wenn es um Drogen geht, läuft die Berichterstattung leicht ins Irrationale."

Diese Berichterstattung wurde von der Polizei befeuert, die sich gegen eine andere Gesetzesnovelle wehrte, die Anfang des Jahres in Kraft trat. Sie definierte – unter anderem, aber nicht nur – für Drogendelikte die Gewerbsmäßigkeit neu. Seitdem muss ein Täter drei Mal erwischt oder ihm nachgewiesen werden, dass er sich durch die wiederkehrende Tatbegehung mehr als ein geringfügiges Einkommen verschafft (darunter werden mehr als 400 Euro monatlich verstanden), damit sein Vergehen ein gewerbsmäßiges ist. Es war "eine sehr kluge Änderung", sagt Nikolaus Tsekas, Wiener Leiter des Resozialisierungsvereins Neustart in Wien, "weil zuvor viele unserer Klienten hohe Strafen wegen Gewerbsmäßigkeit bekommen haben, wo keine Gewerbsmäßigkeit vorhanden war."

Offener Drogenverkauf ist nicht zu verhindern

Der offene Verkauf von Drogen in den U6-Stationen ist nicht auf diese Novelle zurückzuführen, der hat bereits lange zuvor begonnen, sagen Dressel wie Tsekas. Tatsächlich aber hat sie "die Arbeit der Polizei erschwert", sagt Drogenkoordinator Dressel. Aber "es ist natürlich nicht so, dass die Polizei deshalb handlungsunfähig war. Das war sie zu keinem Zeitpunkt." Die Drogenhändler hätten sich einfach an die neue Gesetzeslage angepasst und sie ausgenutzt. "Die Drogenhändler sind ja auch nicht ganz blöd und sie organisieren ihre Arbeit so, dass es dann nur mehr kleine Mengen sind, die sie mithaben", sagt Dressel.

Offenen Drogenverkauf hat es in Wien immer gegeben, ob am Karlsplatz, an der Gumpendorferstraße oder der Kettenbrückengasse. "Das lässt sich in einer Großstadt wie Wien nicht zu hundert Prozent verhindern, aber dimensionieren", sagt Dressel. Im Gegensatz zur früheren Szene am Karlsplatz waren "die meisten Drogen, die da an der U6 verkauft wurden, leichte Drogen, vor allem Cannabis", sagt Tsekas. Wobei sie mehr angeboten als verkauft wurden. "Was ich am meisten wahrgenommen habe, war Polizei, dann waren es Drogendealer und dann schaulustige Passanten. Kunden hab ich so gut wie gar keine wahrgenommen", sagt Tsekas, der selbst in Ottakring wohnt.

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Tsekas kritisiert aber nicht nur die Medien und ihre Berichterstattung, sondern auch die Stadt und die Polizei: "Es beschäftigt mich, wie weit so etwas gezielt eingesetzt wird", sagt er. "Wenn etwa per Durchsage der Wiener Linien durchgesagt wird, es gibt jetzt einen großen Polizeieinsatz bei der Josefstädter Straße und deshalb kommt es zu unregelmäßigen Intervallen. Die Botschaft dahinter ist: Wir haben dort eine Bronx, eine No-Go-Area, wo man nicht mehr hin kann, wenn man seines Lebens sicher sein möchte. Das ist kompletter Unsinn." Gewalt gab es tatsächlich auch höchstens "untereinander und nicht gegen potentielle Kunden", sagt Drogenkoordinator Dressel.

Ein Katz-und-Maus-Spiel

"Gefährlich ist die Szene nicht", sagt auch Wolfgang Preiszler, Chef der Einsatzgruppe gegen Straßenkriminalität; er steht auf der Josefstädter Straße und der Traube an Journalisten Rede und Antwort. Derzeit sei es sehr ruhig, "die Täter sind ein bissl paranoid, das ist gut, die sollen Angst haben", sagt Preiszler. An seiner Arbeit ändere sich durch die Novelle nichts, "nur kommen die Täter jetzt schneller in U-Haft". Mit bis zu 200 Verhaftungen wurde bei einer angekündigten "Aktion scharf" am 1. Juni gerechnet, als die Novelle in Kraft trat. In der Justizanstalt Josefstadt wurden sogar Häftlinge in andere Anstalten verlegt, um freie Betten für die zu erwartenden neuen U-Häftlinge zu schaffen.

Die Bilanz der "Aktion scharf": 14 Verhaftungen, vier Mal U-Haft nach 24 Stunden. Bis Montag wurden 56 Menschen wegen Drogendelikten angezeigt und 48 von ihnen in U-Haft genommen. Oder: Viel Aufregung um nicht viel. Preiszler sieht das anders, ob die Dealer verhaftet wurden oder sich einfach nur zurückgezogen haben, ist ihm egal. "Wer nicht da ist, den muss man nicht einsperren." Jedenfalls erforderte die Aktion einen enormen Personaleinsatz der Polizei, und – sagt jedenfalls der freiheitliche Polizei-Gewerkschafter Werner Herbert – sei in der Form nur drei Wochen machbar. Dass Dealer ihre Drogen verkaufen, sei trotz all der Einsatzkräfte sowieso nicht zu verhindern, "das ist ein Problem, das man nicht lösen kann", sagt Preiszler. Nun würden sich die Dealer eben wieder mehr verteilen. "Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel."

Die Drogenkriminalität stieg kaum

Aber welche Auswirkungen hatte das gestiegene Angebot auf die Konsumenten? "Man muss die Kirche im Dorf lassen, der Cannabiskonsum in Wien ist nicht explodiert, davon kann keine Rede sein", sagt auch Dressel. Er muss sich mit einem Problem herumschlagen, dass eigentlich gar nicht seines ist, denn der Drogenkonsum steigt durch die Angebote am Gürtel nicht wirklich.

Eigentlich stieg nicht einmal die Drogenkriminalität. Zwischen Jänner und April diesen Jahres stiegen zwar die Anzeigen gegenüber desselben Zeitraums 2015 von 3.133 auf 3.447 – aber trotz der steigenden Anzeigen, die auch auf verstärkte Kontrollen der Polizei zurückzuführen sind, führten sie zu weniger Anklagen: Sie sanken von 997 auf 864. Nüchtern betrachtet zeigt das, dass das Problem im Vergleich zum Vorjahr nicht größer geworden ist. Insgesamt ist Wien im internationalen Vergleich eine jener Großstädte, die Drogen und Sucht am besten im Griff haben; auch laut dem Ende Mai veröffentlichten Drogenbericht der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle steht Österreich – mit Ausnahme des Alkohols – sehr gut da.

Bei all der Aufregung ging es eigentlich um etwas ganz anderes: Um das viel zitierte subjektive Sicherheitsgefühl der Anrainer bei den betroffenen U6-Stationen; und darum, dass sie sich unwohl fühlten. Die Drogendealer "waren sehr offensiv, weil es mehr Händler als Käufer gegeben hat", sagt Dressel. "Das war nicht mehr sozial verträglich." Passanten, die die U-Bahn benutzen, konnten sich fast sicher sein, von einem oder mehreren Dealern angesprochen zu werden. Weshalb Dressel auch die Novelle von Anfang Juni für "gut und richtig" befindet. Aber obwohl sie Drogenverkauf zum Thema hat, behandelt sie eigentlich etwas anderes.

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Keine Perspektive, keine Hoffnung

"Es geht nicht um Drogen, es geht um Menschen, die uns unangenehm sind, weil sie da stehen", sagt Nikolaus Tsekas. "Und ich kann das gut verstehen, mir war es auch unangenehm." Was ihn an der Novelle stört, ist die "beunruhigende Entwicklung, dass aufgrund von medialer Aufregung eine Anlassgesetzgebung gemacht wird." Denn "wir wissen alle miteinander, das sagt auch die Polizei offen, dass diese Gesetzesänderung weder die Suchtproblematik noch die Drogenkriminalität beeinflussen wird."

Das eigentliche Problem sind jene, die diese Drogen zu verkaufen versuchen: Menschen, die zumeist aus Afrika stammen, die hier in Österreich nicht arbeiten dürfen, die kaum Chancen auf Asyl haben, die aber aufgrund fehlender Rückführungsabkommen auch nicht in ihre Heimatländer zurück geschickt werden können. Diese Menschen haben buchstäblich nichts. Keine Arbeitserlaubnis, keine Perspektive, keine Hoffnung. Nur solche Menschen tun es sich an, für fast kein Geld Drogen anzubieten, die kaum jemand kauft. "Die Menschen, die dort stehen, sind völlig mittellos, für die zahlt es sich schon aus, 30 oder 40 Euro am Tag zu machen", sagt Dressel.

Eine aussichtslose Situation

Und ihnen sind Anzeigen der Polizei egal. "Jemanden, der keinen Wohnsitz hat und mittellos ist, auf freiem Fuß anzuzeigen, wirkt nicht. Das ist überhaupt nicht abschreckend", sagt Dressel. Wer nichts zu verlieren hat, fürchtet das Gesetz nicht. Es lag mehr an der aussichtslosen Situation der Verkäufer als an dem Gesetz, dass es nicht gewirkt hat. "Wir Sozialarbeiter stehen dann an, wenn wir Menschen nichts anbieten können", sagt Nikolaus Tsekas. "Die Menschen fragen: Wovon soll ich leben? Darf ich jetzt hier bleiben? Und man muss antworten: Nein, du darfst nicht arbeiten und du darfst eigentlich auch nicht hier bleiben. Aber zurück geht auch nicht. Alternativen haben wir auch nicht. Aber bitte verhalte dich wohl!"

Mit der Novelle der Novelle, die seit 1. Juni gilt, können diese Menschen nun in Haft genommen werden, anstatt nur auf freiem Fuß angezeigt. Nur: Was bringt das? "Als würde Haft irgendetwas lösen. Außer, dass diese Person für eine gewisse Zeit hinter verschlossenen Türen ist", sagt Tsekas. "Wir brauchen Ideen für diese Gruppe von Menschen." Die allerdings hat bislang niemand, wenn diese Personen wieder aus der Haft entlassen werden, geht das Spiel von vorne los. "Dieses Problem lässt sich durch die neue Bestimmung im Suchtmittelgesetz nicht lösen", sagt auch Michael Dressel. Die Novelle ist Symbolpolitik in Reinkultur. Die Lösung, die nun beschlossen wurde, lautet: Aus den Augen, aus dem Sinn.