Chronik/Wien

Der Tag nach dem Wien-Anschlag: Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein

Schon am Weg in die Wiener Innenstadt ist eines klar: Nichts ist dort heute wie gewohnt. Die U-Bahnen sind Dienstagfrüh beinahe menschenleer. Am Schwedenplatz, wo noch am Montagabend Schüsse gefallen sind und Menschen panisch um ihr Leben liefen, stehen nun dutzende Polizisten, das Sturmgewehr im Anschlag. Sie tragen kugelsichere Westen und Helme, hinter ihnen ist der Bereich rund um die Seitenstettengasse und das Bermudadreieck immer noch abgeriegelt. 

Am frühen Dienstagabend wird der Bereich rund um die Tatorte des Vorabends geöffnet. Die Bilder zeigen die Schreckenszenen der vergangenen Nacht. Zwischen der ältesten Kirche von Wien und der Synagoge der Stadt - wo junge Wiener so gerne das Leben genießen und feiern. Der Boden ist übersät mit Markierungen der Polizei.

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Man kann nur erahnen was sich hier, knapp 24 Stunden zuvor, angespielt haben muss. Dabei wirkt der Bereich rund um die Tatorte, als ob die Zeit am Montag um 20 Uhr stehen geblieben wäre. Die schlimmsten Szenen zeigt das Salzamt - wo eine Suppe noch so steht, wie sie serviert wurde. Vor vielen Lokalen stehen halbleere Krügerl. Zerbrochene Flaschen am Boden und blutige Schuhabdrücke bedecken die Pflastersteine im Bermuda-Dreieck.

Die roten Sesseln im Lokal Philosoph stehen verstreut, man sieht förmlich Menschen aufstehen und flüchten. Einige rote Sesseln sind umgeworfen, ein anderer Sessel befindet sich im Hauseingang nebenan, man sieht hier wurde Erste Hilfe in einer sehr kritischen Situation geleistet, blutige Tücher liegen noch am Boden.

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Noch am Dienstagvormittag war in diesem Bereich die Tatortgruppe dabei, Spuren zu sichern. Am gesamten Desider-Friedmann-Platz sind Markierungen am Boden zu erkennen - sie zeichnen vermutlich den Weg des mutmaßlichen Täters nach. Sie zeigen, wo es Tote und Verletzte gab. Der Schock, der sitzt in der Wiener Innenstadt noch tief.

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Geschäfte bleiben geschlossen

Sonst stark frequentierte Einkaufsstraßen sind wie leer gefegt. Rund 90 Prozent aller Geschäfte bleiben am Dienstag geschlossen, einzig ein paar Kaffeehaus-Ketten teilen gratis Kaffee an die Einsatzkräfte aus. Manche von ihnen waren die ganze Nacht im Einsatz. Erst gegen 9.30 Uhr werden die Beamten am Fleischmarkt abgelöst. Keine Sekunde bleibt bei der Ablöse, in der nicht jemand mit Sturmgewehr die Straße versperrt. 

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Hinter den Polizisten lassen umgefallene Tische nur noch erahnen, was hier gestern Nacht geschehen sein muss. Auf jenen Tischen, die noch stehen, blieben halbvolle Aperol-Spritzer zurück. Hunderte Menschen mussten die Gastgärten, wo viele noch einen letzten Drink vor dem Lockdown genießen wollten, hastig verlassen.

Viele waren dann gezwungen, von 20 Uhr bis knapp vor 2 Uhr in den Lokalen auszuhalten. Manche mit Polizeischutz im Lokal, manche ohne. Manche mit genug Infos, was überhaupt vorgeht, und manche ohne Akku im Handy. Wieder andere wären dem mutmaßlichen Täter beinahe in die Quere gekommen und hatten einfach nur Glück.

Zuflucht in Hotels

In den Innenstadthotels fanden viele von ihnen schließlich Zuflucht und ein Bett. Geschlafen haben sie vergangene Nacht wohl aber nicht. Den Menschen, die im Hotel Topazz am Lichtensteg Unterschlupf fanden, sind am Dienstag Müdigkeit und Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben.

Im Frühstücksraum, wo es wegen des Lockdowns nur noch Manner-Schnitten und Kaffee gibt, sitzen Valentina und Elisabeth. Sie hatten sich während der Schüsse im WC eines Lokals eingesperrt, bis die Polizei die Bar sicherte. "Bei jedem Geräusch zuckten alle zusammen", erinnern sie sich.

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Niki und Julia waren am Abend im Figlmüller. Sie saßen im Gastgarten, als plötzlich eine Menschenmasse auf sie zugeströmt kam. "Wir haben Schüsse gehört und sind ins Restaurant gelaufen", erzählt Niki. 

Das Lokal wurde abgeriegelt, sechs Stunden seien sie dann am Boden gelegen. "Wir haben geweint, alle waren panisch", sagt Niki. Erst gegen 2 Uhr Früh bekamen sie die Info, dass die Straßen frei seien - sie rannten ins Hotel. "Jetzt wollen wir einfach nur heim", sagt Niki. Doch ein Taxi zu finden, das ist selbst am Dienstag noch schwer. In die U-Bahn zu steigen, das wollen die beiden nach ihren Erlebnissen noch nicht. 

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Und dann ist da Florian Matthies, der kurz nach 20 Uhr von seinem Geschäft in der Judengasse zu seinem Auto am Schwedenplatz wollte. Nur weil er seinen Schlüssel vergessen hatte, drehte er nochmal um. Als er erneut losging, habe er den mutmaßlichen Terroristen bereits tot am Boden gesehen, berichtet er. "Wäre ich früher dran gewesen, dann wäre ich ihm über den Weg gelaufen", sagt Matthies. Zu diesem Zeitpunkt sei noch wenig Polizei am Tatort gewesen, schildert er. Er vermutet, dass junge Streifenpolizisten den mutmaßlichen Terroristen ausschalteten.

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Nur wenige scheinen an diesem Dienstag freiwillig in die Innenstadt zu kommen. Journalisten aus aller Welt bauen ihre Kameras auf, schwer bewaffnete Beamte bewachen den Stephansdom. Sogar ein Wagen der Militärpolizei fährt vorbei. Nur ein paar wenige Gläubige haben sich im Dom zum Beten eingefunden. Und wieder andere müssen in die City, um zu arbeiten. 

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Darunter ist auch David Yosopov, der in der Innenstadt ein Immobilienbüro hat. Am Vortag war er am Weg nach Hause eine halbe Stunde im Verkehr festgesteckt. Die Polizei kontrollierte alle Autos. Heute dreht er vor der Arbeit eine Runde am Graben: "Ich habe mich in Wien noch nie gefürchtet und habe meine Kippa immer getragen. Nur seit gestern habe ich etwas Angst", sagt er.

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Er hätte sich nie gedacht, dass so etwas in Wien passiert, sagt er, wolle aber in die Arbeit der Polizei vertrauen: "Wir müssen unser Leben weiterführen und wir werden unser Leben weiterführen", sagt er.

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