Chronik/Welt

Attentäter hatten New York im Visier

Zuerst gab es grobe Schnitzer seitens des FBI, dann aber verhinderte der relativ rasche Fahndungserfolg Schlimmeres. Denn wie der festgenommene Dschochar Zarnajew, 19, der mit seinem getöteten Bruder Tamerlan die Bombenanschläge während des Boston-Marathons verübt hatte, im Verhör nun mitteilte, hatte das Duo auch New York im Visier. Laut dem dortigen Bürgermeister Michael Bloomberg sollten auf dem belebten Times Square in Manhattan Sprengkörper gezündet werden. Dies habe der gebürtige Tschetschene, der am Freitag vom Krankenhaus ins Spital überstellt wurde, gestanden.

Konkret hätten die beiden mit sechs, selbst gebastelten Bomben am vergangenen Freitag von Boston in den „Big Apple“ fahren wollen. Deswegen kaperten sie ein Auto und nahmen den Lenker als Geisel. Als sie dann aber bemerkten, dass sie zu wenig Benzin hatten, fuhren sie zu einer Tankstelle. Dort gelang dem Pkw-Inhaber die Flucht. Der alarmierte die Polizei. In der Großfahndung wurde Tamerlan Zarnajew bei einem Schusswechsel getötet, sein Bruder später festgenommen.

Bereits 2010 hatte Faisal Shahzad, ein US-Bürger pakistanischer Herkunft, versucht, eine Autobombe am Times Square zu zünden. Nur ein technisches Versagen verhinderte damals ein Blutvergießen. Der Mann wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Kritik an den Sicherheitsdiensten

Indes geht in den USA die Debatte über das Versagen der Sicherheitsdienste im Fall der Zarnajews weiter. „Milliarden Dollar von Steuerzahlern wurden seit 9/11 für Informationsaustausch ausgegeben. Aber es scheint, als ob das Geld nicht richtig verwendet wird.“ Die republikanischen Abgeordneten Kelly Ayotte und John McCain (Ex-Präsidentschaftskandidat) zeigen sich – wie fast alle Republikaner – empört. Sie verlangen eine Kongressanhörung zu den Boston-Attentätern. Sie wollen wissen, ob die US-Geheimdienste den Zarnajews das Handwerk legen hätten können.

Schon seit 2011 im US-Visier Sowohl das FBI als auch die CIA hatten Tamerlan im Visier. Im März 2011 war das FBI vom russischen Geheimdienst über die möglichen extremistischen Tendenzen informiert worden. Die Beamten haben Tamerlan interviewt, aber nichts „Auffälliges“ bemerkt. Dann habe das FBI die russischen Kollegen um zusätzliche Information gebeten, berichtete ein Exekutivbeamter dem Wall Street Journal. Die hatten aber nichts – nach drei Monaten war der Fall geschlossen. Im September 2011 wurde die CIA informiert. Mit den gleichen Hinweisen wie zuvor die Bruderorganisation. Auf Ansuchen der CIA wurde Tamerlan Zarnajews Name in eine Terror-Datenbank aufgenommen (TIDE – Terrorist Identities Datamart Environment). Näher untersucht oder beobachtet werden diese Personen nicht automatisch.

Auf zwei weiteren Beobachtungslisten stand sein Name, doch wegen Mangels an Beweisen beobachtete man den 26-Jährigen nicht weiter. Als Tamerlan 2012 nach Russland flog, „klingelte“ es bei den Behörden, so Heimatschutzministerin Janet Napolitano. Doch als er nach sechs Monaten zurückkehrte, sei der Hinweis nicht mehr beachtet worden.

Der Fall Tamerlan Zarnajew sei bereits der fünfte, in dem ein Attentäter dem FBI trotz Überprüfung durchs Netz ging, sagte der republikanische Abgeordnete Peter King in einem TV-Interview. Auch der „Unterhosenbomber“ stand auf der TIDE-Datenbank, als er 2009 versuchte, sich mit Sprengstoff in seiner Unterhose in einem Flugzeug in die Luft zu sprengen.

Eltern wollen in die USA reisen

Die Eltern der beiden Attentäter wollen in den USA bei den Ermittlungen helfen. Ansor Zarnajew soll sich bereits auf dem Weg in die USA befinden. Zubeidat, die Mutter, war laut Medienberichten noch nicht sicher, ob sie reisen werde. Die beiden, die getrennt voneinander im Kaukasus leben, sind von der Unschuld ihrer Söhne überzeugt. Zubeidat Zarnajewa soll bei einer Pressekonferenz gesagt haben, dass „Farbe statt Blut“ für die Bilder benutzt worden sei. „Ich werde in die USA reisen, um meinen Sohn zu sehen und um den anderen zu beerdigen“, sagte der Vater.

Die Ermittler in Boston versuchen inzwischen, die Puzzlestücke zusammenzufügen. Stunde für Stunde werden neue Details bekannt. Demnach sollen die Bomben mit einer Fernbedienung wie von einem Spielzeugauto ausgelöst worden sein. Die Herstellung jeder Bombe könnte weniger als 100 Dollar gekostet haben, sagte ein Terrorexperte dem Boston Globe.

Unklar war noch, wie viele Waffen die mutmaßlichen Täter neben den Kochtopf-Bomben hatten. Bei dem Schusswechsel am Freitag, bei dem der ältere der beiden getötet wurde, sollen rund 250 Schuss abgegeben worden sein. Angeblich wurde bei den Brüdern bisher nur eine 9-Millimeter-Pistole sichergestellt – und eben jene Bomben, die für New York geplant waren. Berichten zufolge soll Dschochar bei seiner Festnahme auf einem Boot in einem Garten in Watertown keine Waffe bei sich gehabt haben.

Demo in Wien

Rund 40 Menschen haben indes am Donnerstagnachmittag vor der US-Botschaft in Wien für die beiden mutmaßlichen Boston-Attentäter demonstriert. Mehr dazu in der Wien-Chronik.

Dschochar Zarnajew, der jüngere der Boston-Attentäter, hat indes im Krankenhaus erste Auskünfte erteilt – schriftlich, da er wegen Kopfverletzungen nicht sprechen kann. Wie CNN unter Berufung auf eine Quelle aus Ermittlerkreisen berichtet, soll er dabei seinen Bruder als den Hauptverantwortlichen bezeichnet haben – Tamerlan Zarnajew, der bei der Verfolgungsjagd in Boston getötet wurde, sei die treibende Kraft hinter Planung und Ausführung des Anschlags gewesen. Auch die Motivation der beiden sei Thema gewesen, berichtet der Sender – der 19-Jährige habe erklärt, sein Bruder habe mit der Tat den Islam verteidigen wollen. Er habe ohne Unterstützung anderer gehandelt, internationale Terrororganisationen würden also nicht hinter dem Attentat stecken.

Die Anklageschrift wurde dem jüngeren Bruder am Krankenbett verlesen – dabei sei er "wach, mental aufnahmefähig und bei klarem Verstand" gewesen, gab Richterin Marianne B. Bowler zu Protokoll. Er habe sich durch Nicken mit ihr verständigt. Zarnajew wird sich vor einem Zivilgericht wegen des Gebrauchs von Massenvernichtungswaffen verantworten müssen. Anfangs war von der Einstufung als „feindlicher Kämpfer“ die Rede, davon ist man mittlerweile abgekommen – dadurch hat der 19-Jährige das Recht auf einen Anwalt. Der Prozess soll am 30. Mai beginnen, berichtet CNN. Sollte Zarnajew schuldig gesprochen werden, kann laut der Behörde die Todesstrafe oder eine lebenslange Haftstrafe gegen ihn verhängt werden.

Mit Tippfehler durch Raster gerutscht

Bekannt wurde auch, dass ein simpler Rechtschreibfehler möglicherweise eine rechtzeitige Überprüfung der Brüder verhindert hat. Tamerlan, der ältere der beiden mutmaßlichen Täter, habe wegen eines falsch buchstabierten Namens unbemerkt nach Russland reisen können, sagte der republikanische US-Senator Lindsey Graham am Montag. "Wir wissen nicht, ob er ihn selbst falsch buchstabiert hat", sagte der Senator - oder ob es die russische Fluggesellschaft Aeroflot war, mit der Zarnajew einst flog.

Die Ermittlungen konzentrieren sich nun auf eine knapp sechsmonatige Reise, die Tamerlan Zarnajew im Jahr 2012 in die russische Kaukasusrepublik Dagestan führte. Dort sei er "mindestens vier Mal ins Visier der Sicherheitskräfte geraten", erfuhr die Nachrichtenagentur AFP von örtlichen Behördenvertretern. Grund waren Treffen mit einem jungen Mann, der Verbindungen zur islamistischen Untergrundbewegung unterhielt.

Tatablauf rekonstruiert

Dschochar Zarnajew soll für den Tod von drei Menschen und die Verletzungen von mehr als 180 weiteren zur Verantwortung gezogen werden, teilte US-Generalstaatsanwalt Eric Holder in Washington mit. Außerdem wird er für die Zerstörung, die die Bomben am 15. April im Zielbereich des Marathons angerichtet haben, gerade stehen müssen. Laut Anklageschrift - hier nachzulesen - habe das FBI anhand des sichergestellten Video- und Fotomaterials den Tatablauf rekonstruiert.

Am Montag gegen 14.38 Uhr, elf Minuten vor der ersten Explosion, seien die mutmaßlichen Täter von der Gloucester in die Boylston Street eingebogen; beide hätten dabei große Rucksäcke getragen. Während Tamerlan der Straße in Richtung Ziellinie, dem Ort der ersten Explosion, gefolgt sei, sei sein Bruder vor einem Restaurant stehen geblieben – dort, wo die zweite Bombe detonierte. Auf dem Material sei zu sehen, wie er seinen Rucksack abstelle und auf sein Handy schaue - 30 Sekunden vor der ersten Explosion soll er das Telefon ans Ohr gehalten haben.

Danach sei die Reaktion der Menschenmassen auf die erste Explosion deutlich zu erkennen – während alle auf den Zielbereich gestarrt hätten, habe Tamerlan Zarnajew sich vom Zieleinlauf wegbewegt. Kurz danach ist die zweite Bombe hochgegangen.