Obdachlose belagern den hippen Venice Beach
Von Dirk Hautkapp
Der demokratische Stadtrat, der Bürgermeister von Los Angeles werden will, machte Wahlkampf an dem für Künstler und Freaks, Hippies und Hipster, Surfer und Skateboard-Fahrer, Bodybuilder und Basketballer weltbekannten kalifornischen Strandabschnitt. Plötzlich tauchte eine obdachlose Frau mit einem Messer auf und stieß wüste Drohungen aus. Die Polizei intervenierte rechtzeitig. Aber Joe Buscaino sah sich bestätigt in seiner Forderung, gegen das Problem der „homesless people“ energischer vorzugehen. Devise: Räumen, räumen und nochmals räumen.
Gemeint ist die westlichste Open-Air-Obdachlosen-Siedlung der USA. Nur wenige Meter von der Pazifik-Brandung entfernt haben sich Hunderte aus Zelten und Pappkartonbauten und Sperrmüll notdürftige Behausungen gebaut. Nach „Skid Row“, der Obdachlosen-Meile in Downtown Los Angeles, wo rund 5000 Menschen seit Jahren auf den Bürgersteigen hausen, zählt das in der Endphase von Corona wieder sehnsüchtig auf Touristen wartende Venice Beach derzeit mit über 2000 Entwurzelten auf drei Quadratmeilen die meisten Obdachlosen in der Umgebung.
Hohe Kriminalitätsrate
Brände, die in den Zeltlagern entstehen und auf Geschäfte übergreifen, Messerstechereien, Schießereien plus ein deutlicher Anstieg bei der Beschaffungskriminalität (Raubüberfälle, Fahrraddiebstahl etc.) und tonnenweise Müll haben die Duldsamkeit vieler traditionell linksliberaler Anrainer überstrapaziert.
„Es muss endlich aufhören“, schrie in der vergangenen Woche eine ältere Frau in eine Fernsehkamera, „ich wohne seit 45 Jahren hier. Aber heute können mich meine Enkel nicht mehr besuchen. Es ist zu gefährlich, wenn Kranke, Drogensüchtige und psychisch gestörte Menschen auf so engem Raum beieinander sind.“
Honig aus der Situation saugen will neben Joe Buscaino auch Alex Villanueva, der schillernde Sheriff des Landbezirks Los Angeles. Er steht nächstes Jahr zur Wiederwahl an. Da macht es sich gut, auf dem Ocean Front Walk von Venice breitbeinig entlang zu stiefeln und mit Strafen zu drohen.
Bis zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli, wenn in der Regel Zehntausende an den Strandabschnitt zwischen Santa Monica-Pier und dem Open-Air-Bodybuilding-Käfig in Venice kommen, in dem einst Arnold Schwarzenegger Eisen gestemmt hat, sollen die „Schandflecke“ verschwunden sein, sagte Villanueave. Sonst werde er „für Ordnung im öffentlichen Raum sorgen“.
Ebendort dürfte das Problem eigentlich gar nicht existieren. Nach den Ordnungs-Gesetzen ist Venice Beach nachts für Wohnungslose No-go-Zone. Doch in der Corona-Hochphase setzte die Stadtverwaltung die Bestimmungen nicht durch. Die Menschen mit Engelszungen in geschützte Notunterkünfte zu agitieren, schien wegen Ansteckungsgefahr zweite Wahl. Jetzt, wo sich die Pandemie entspannt, sind die Resultate – Wildwuchs beim Übernachten in innerstädtischen Lagen.
Westküsten-Phänomen
Viele Städte an der US-Westküste, von Seattle bis San Diego, haben seit Jahren mit einem schwindelerregenden Anstieg bei den Mieten und Sozialwohnungsbau im Schildkröten-Tempo zu tun. Dass die Gruppe der regional Durchs-Netz-Gefallenen da immer größer wird und mit den traditionell aus allen Bundesstaaten auf ihrem Zug nach Westen in Kalifornien ankommenden Heimatlosen eine kritische Masse erreicht, liegt für Stadtforscher der Universität Stanford „auf der Hand“.
Zelte in San Francisco
San Francisco etwa hatte vor einem Jahr 1.100 Zelte auf seinen Straßen und knapp 70 provisorische Lager. Robin Abcarian, Kolumnistin der Los Angeles Times, und selber Anrainerin in Venice Beach, macht darauf aufmerksam, dass das 1905 von Abbot Kinney samt Kanälen und Fake-Palazzo-Gebäuden als Venedig-Abklatsch konzipierte Viertel heute Hunderte Wohnungen weniger hat als vor 15 Jahren.
Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom und Bürgermeister Eric Garcetti wollen darum den Bau von Übergangsheimen und Wohnblöcken für Geringverdiener vorantreiben, um die Obdachlosen in normale Wohnverhältnisse zu bringen.
Eine Einrichtung ist in Venice Beach geplant. Va Lecia Adams Kellum, Chefin des kirchlichen St. Joseph Centers, das seit 45 Jahren vor Ort Gestrandete betreut, begrüßt die Pläne, ist aber skeptisch. Der Grund: Bei einer Bürgerversammlung vor einigen Tagen sprachen sich viele Anrainer dagegen aus: „Nicht in unserer Nachbarschaft!“.