Chronik/Österreich

Wie es ist, arm zu sein: "Frau Sonnenschein" gibt Einblick auf Twitter

"Wenig versetzt mich mehr in Panik, als beim Einkaufen zahlen zu wollen, und der Kartenterminal schreibt ,Karte abgelehnt’“, twittert Daniela Brodesser aka "Frau Sonnenschein“ Mitte Oktober.

Sie erzählt auf ihrem Kanal davon, wie es ist, von Armut betroffen zu sein. Wenn man beim Einkauf genau mitrechnet, weil man noch exakt sieben Euro am Konto hat; sich entscheiden muss, was mitkommt – für sich, den Ehemann und die vier Kinder.

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Die Oberösterreicherin hat einen jahrelangen Kampf gegen die Armut hinter sich, wobei sie zunächst dachte: „Armut passiert mir nicht, nur den anderen, denen, die krank sind, denen, die eh nicht wollen. Ich habe vor zehn Jahren, ehrlich gesagt, auch noch so gedacht – und bin dann eines Besseren belehrt worden“, sagt Brodesser.

Ihr jüngstes Kind kam schwer krank zur Welt und musste betreut werden. 2012 hatte ihr Ehemann ein Burnout, 2014 das nächste – er arbeitete trotzdem Vollzeit. Durch die Betreuung der Jüngsten war sie mehrfach prekär beschäftigt – arbeitete geringfügig, und so „kamen wir in den Strudel der Armut“.

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Spielplatz statt Kino

Während es in der öffentlichen Debatte meist um den finanziellen Aspekt geht, waren es zwei weitere Dinge, die der heute 46-Jährigen schwer zusetzten: Die Beschämungen und Vorurteile, mit denen sie konfrontiert war – im Umfeld, im Nachbarort, in Schulen, bei Behörden – und die fehlende Teilhabe. „Wenn du den Kindern sagen musst, dass sie nicht zum Kindergeburtstag können, weil die zehn Euro für das Geschenk nicht mehr da sind. Und wenn das dann öfters vorkommt, werden sie irgendwann ausgeschlossen“, erzählt Brodesser.

Und auch die Kinder selbst hätten sich mehr und mehr zurückgezogen: „Sag einmal als 15-Jähriger, komm lass uns lieber zum Spielplatz gehen, nicht ins Kino.“ Es sei leichter, so etwas zu erklären, wenn man in einem Brennpunkt lebt, wo Armut allgegenwärtig ist, als – so wie ihre Familie – am Land.

Völlige Isolation

Sätze wie „Ihr wollt’s ja nicht, du bemühst dich zu wenig, andere schaffen das auch“ habe sie ständig gehört. Irgendwann sei das so kräftezehrend gewesen, dass sie sich völlig zurückgezogen hat. „Ich habe zwei bis drei Jahre in der völligen Isolation gelebt.“

Einige dieser „demütigenden Momente“, haben sie dann dazu gebracht, in der Öffentlichkeit zu schreiben. Was sie zunächst 2017 als „Graue Maus“ und anonym tat. Doch sie wollte damit erreichen, dass auch andere offen über ihre Situation sprechen, und dafür musste sie sich auch zeigen. Nach einem Dreivierteljahr trat Daniela Brodesser mit ihrem Klarnamen als „Frau Sonnenschein“ auf. „Es kamen irrsinnig viele Rückmeldungen von Betroffenen, die gesagt haben, so geht es mir auch, und auch von Nicht-Betroffenen.“

10.000 Follower auf Twitter

Dadurch habe sich viel ergeben, und sie hat einen Job gefunden. „Im Oktober 2019 waren wir das erste Mal wieder über der Armutsgrenze.“ Heute ist Brodesser selbstständig, hat mehr als 10.000 Follower. Unter dem Motto „Willkommen in der Welt der Armut“ gibt sie Workshops für Studierende, Firmen, für von Armut Betroffene – und für Nicht-Betroffene, um dafür zu sensibilisieren, was Armut mit einem macht.

Beschämende Debatte

Die aktuellen politischen Debatten über das Thema seien beschämend, Begriffe wie „soziale Hängematte und fehlende Anreize haben sich eingeprägt“, so die Aktivistin. Es sei wichtig, dass Medien auch immer wieder über das Thema Armut „nicht beschämend“ berichten, damit die Betroffenen mitkommen, „Ich bin nicht allein“. „Auch ich habe immer gedacht, dass nur ich es nicht schaffe, und mich als Versagerin gefühlt, aber wenn man hört, dass es 1,22 Millionen Betroffene bei neun Millionen Einwohnern gibt, ist das nicht wenig. Armut ist strukturell“, so Brodesser.

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In Österreich sei es nach wie vor nicht normal, dass Armutsbetroffene mitreden, „es wird nur über sie geredet“. Armutsbetroffene sollten in Arbeitskreisen sitzen, wenn es um Sozialhilfe, Mindestsicherung oder Gesundheit geht.

Was es – neben Teilhabe und Bildungsgleichheit – brauche, ist die Möglichkeit einer Auszeit für Betroffene. „Es hat uns so gefehlt, einmal zwei bis drei Tage herauszukommen, in einer anderen Umgebung zu sein“, erzählt die vierfache Mutter. Deshalb hat sie das Projekt „Auszeit“ initiiert. Mithilfe von Spenden baut sie einen Baucontainer zu einem „Tinyhouse“ um. Er wird, umgeben von Natur, im Mühlviertel stehen und soll finanziell benachteiligten Familien ein paar Tage Erholung ermöglichen – und zwar kostenlos.

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