Chronik/Österreich

Gewalt zu Weihnachten: Stiller Notruf statt Stille Nacht

„Frau mit Messer getötet“ und „Tote Kinder: Vater gesteht Tat“, so oder ähnlich lesen sich die Schlagzeilen der vergangenen Jahre rund um den 24. Dezember. Dass die Weihnachtszeit nicht in allen Familien besinnlich ist, zeigen auch die ausgesprochenen Betretungs- und Annäherungsverbote in Österreich, deren Fallzahlen in den Jahren 2020 und 2021 im Dezember jeweils anstiegen.

Eine „gewisse Intensität der Einsätze“ zu dieser Jahreszeit erkennt auch das Innenministerium (BMI). Deshalb wird in den Feiertagen der sogenannte stille Notruf beworben. Dabei handelt es sich um eine Funktion der Handy-App „DEC112“.

Die ermöglicht es Opfern von Gewalt, unauffällig die Polizei zu kontaktieren, wenn ein sprach- oder textbasierter Notruf nicht möglich ist. Ein Klick in der App genügt, um den Notruf abzusetzen. Mithilfe von GPS-Standortinformationen sowie der in der App hinterlegten Adresse wird dann eine Polizeistreife losgeschickt.

Finanzielle Herausforderungen, die Familie auf engem Raum, Alkohol. All das erhöht das Gewaltpotenzial

Marion Neunkirchner
Kriminalsoziologin

Ein Angebot, das angenommen wird – seit der Einführung des stillen Notrufs im März 2022 haben sich die Nutzerzahlen auf 5.500 mehr als verdoppelt. Die könnten jetzt weiter steigen: Wie Marion Neunkirchner vom Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung (VICESSE) erklärt, verstärken gewisse Faktoren während der Feiertage „destruktives Verhalten“.

Was die 31-jährige Kriminalsoziologin damit meint: Menschen, die ohnehin schon zur Gewalt neigen, verspüren zu dieser Jahreszeit zusätzlich individuellen Druck.

„Es gibt dieses Idealbild der Familie – gerade zu Weihnachten. In der Realität sind die Tage rund um den Heiligen Abend aber besonders stressig. Es kommt zu finanziellen Herausforderungen, die Familie ist auf engem Raum zusammen, es wird Alkohol getrunken. All das erhöht das Gewaltpotenzial.“

13 stille Notrufe

Aus genau diesem Grund hofft man im BMI, dass speziell Frauen, die Opfer von Gewalt sind, nicht zögern und sich Hilfe bei der Polizei holen. „Der stille Notruf kann Leben retten und ist gleichzeitig ein direkter Draht zur Polizei, um Frauen vor Gewalt zu schützen“, sagt Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) zu der Maßnahme, die Teil des Gewaltschutzpakets der Bundesregierung ist.

13-mal wurde bisher ein solcher Notruf abgesetzt. Bei sieben der daraus resultierenden Einsätze bestand bereits ein aufrechtes Betretungsverbot. Gerade in derart akuten Gefahrensituation erscheint die Möglichkeit eines unbemerkten Notrufs sinnvoll. Das sieht Neunkirchner, die zum Thema häusliche Gewalt forscht, ähnlich: „Die App ist als schnelles und einfaches Mittel sicher eine gute Ergänzung, gleichzeitig aber kein Allheilmittel. Erreicht wird damit nur eine bestimmte Opfergruppe.“

Konkret sind das jene Menschen, die sich der Gefahr durch ein Familienmitglied bewusst seien und die im Ernstfall bereit wären, die Polizei zu rufen. Der Kriminalsoziologin zufolge bräuchten aber auch Personen Unterstützung, die vor dieser Hürde noch zurückschrecken. Speziell Frauen müssten daran glauben können, dass ihnen die Polizei helfe.

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13.300 Wegweisungen

Im BMI ist dieser Kritikpunkt bekannt. Laut Innenminister Karner handelt es sich deshalb nur um eine von vielen Maßnahmen. Man arbeite eng mit Opferschutzeinrichtungen zusammen, um das Vertrauen von Gewaltopfern in die Behörden weiter zu erhöhen. Dieses sei aber ohnehin schon hoch.

Frauennotruf
24 Stunden täglich Hilfe für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen in Wien (01/71719) 

Gewaltschutz
Die Gewaltschutzzentren der Bundesländer sind eine bundesweit anerkannte Opferschutzeinrichtung (0800/700217)

Männernotruf
Telefonische Anlaufstelle für Männer in Krisen- und Gewaltsituationen, rund um die Uhr und österreichweit (0800/246247)

Helpchat
Tägliche Online-Beratung für Frauen und Mädchen bei allen Formen der Gewalt (haltdergewalt.at)

Frauenhäuser
Die Frauenhäuser verhindern Gewalt durch Information und Sensibilisierung. Es gibt auch eine kostenlose Helpline (0800/222555)

Zumindest die mehr als 13.300 Betretungs- und Annäherungsverbote in Österreich bis Ende November sprechen dafür. Damit wurden 2022 allein in den ersten elf Monaten des Jahres mehr Gefährder weggewiesen als im gesamten Jahr 2020 und fast genauso viele wie 2021.

Für die Polizei ein Indikator, dass immer mehr Menschen bereit sind, häusliche Gewalt anzuzeigen. Ob sich derartige Einsätze über Weihnachten auch dieses Jahr häufen, wird sich zeigen. Mit dem stillen Notruf gibt es jetzt aber zumindest eine weitere Möglichkeit für Opfer von Gewalt, rasch Hilfe zu holen. Mehr Hilfs- und Beratungsangebote finden Betroffene im Infokasten rechts oben.