Chronik/Österreich

Lauf ums Leben: Der Vermisstenfall Aeryn Gillern

Der 29. Oktober 2007 begann für ihn als ganz normaler Montag. Der damals 34-jährige Aeryn Gillern, der für die Vereinten Nationen als Forschungsassistent in Wien arbeitete, verbrachte knapp neun Stunden im Büro und verließ es um 18.10 Uhr. Danach ging er in den Supermarkt einkaufen und beschloß, noch auf einen Sprung ins Kaiserbründl zu schauen, eine Männersauna in der Wiener Innenstadt. Es kann nicht viel Zeit vergangen sein, bis dort etwas Rätselhaftes passiert sein muss. Etwas, das Aeryn Gillern dazu brachte, panisch und splitternackt aus dieser Sauna zu laufen. Lediglich seine Badeschlapfen trug er an den Füßen. Er verschwand in den schmalen, dunklen Gassen der City und wurde seitdem nie wieder gesehen, er wird seit 14 Jahren vermisst.

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Der Fall gilt als einer der mysteriösesten Cold Cases der österreichischen Kriminalgeschichte. Er erregte Aufsehen über die Grenzen hinweg, da die Mutter des gebürtigen Amerikaners bis heute nicht aufhört, zu kämpfen. Sie möchte die Wahrheit über das Schicksal ihres Sohnes erfahren.  

John Michael Aeryn Gillern wurde am 28.April 1973 in Elmira im Bundesstaat New York geboren. Er hat einen Bruder, die Eltern trennten sich früh und die Kinder lebten bei der Mutter Kathryn Gilleran (Anm. alte Schreibweise des Namens), die ihr Leben lang Polizistin war und heute pensioniert ist. “Aeryn war überaus gescheit, er hat Bücher schon als kleines Kind geliebt, außerdem hatte er einen fantastischen Sinn für Humor”, erzählt sie in einem Videoanruf.

Sehr früh war für ihn klar, dass er Priester werden wollte, vor allem die Franziskaner interessierten ihn. Dafür besuchte er ein Priesterseminar in Graz, doch es sollte große Ernüchterung bringen und alle Träume zerstören. Als ihm bewusst wurde, dass er gegen Homosexuelle hätte predigen müssen, brach er ab. “Das war ein emotionaler Tiefpunkt für ihn. Natürlich habe ich ihm gesagt, das wusstest du doch, Junge. Aber er wollte es wohl nicht wahrhaben”, erzählt die Mutter. 

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Aeryn Gillern war homosexuell, er stand dazu und machte kein Geheimnis daraus. In jungen Jahren wurde er deshalb gemobbt, Studienkollegen hätten ihn mit Essen beworfen und er habe es stets still ertragen. Der Schritt, in Wien zu leben, erschien ihm aus mehreren Gründen gut. Er war kulturell sehr interessiert und die Menschen in dieser europäischen Stadt schienen offener zu sein, leben und leben lassen. “Aeryn hat immer sehr auf sein Äußeres geachtet. Einerseits hat er sich gerne elegant gekleidet, andererseit war er sehr sportlich”, erzählt die Mutter. Zudem arbeitete er als Model und wurde im Jahr 2005 sogar zum Mr. Gay Austria gekürt. Heute sagt die Mutter, dass es da sicherlich den einen oder anderen aus dem Kaiserbründl gegeben habe, der deshalb neidisch auf ihn war. 

Ominöser Streit

Doch was ist das Kaiserbründl genau? “Eine äußerst faszinierende Institution, die es seit 1889 gibt, früher war es das Zentralbad. 1970 wurde es dann in eine Sauna für Homosexuelle umgewandelt, vieles im maurischen Stil”, erzählt Leopold Kögler, Historiker und selbst langjähriger Gast in dem noblen Etablissement in der Weihburggasse im ersten Bezirk. Das grüne Tor des Gründerzeithauses führe in eine Art eigene Welt mit vielen dunklen Gängen, Barbereich, Restaurantbereich, dazwischen verwinkelte, kaum einsehbare Areale. Sauna, Duschen, Schwimmbäder und natürlich die “Spielwiesen”, wie Kögler sie nennt. Das alles auf 1.700m². 

“Das Kaisebründl ist eine Sex-Sauna, da braucht man gar nicht drumherum reden”, sagt Jürgen Holzer, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Er hat fast ein Jahrzehnt in der Männersauna gearbeitet, heute tut er das nicht mehr und daher redet er nun auch mit dem KURIER. Es ist das erste Mal, dass er über den Fall Aeryn Gillern öffentlich in den Medien spricht. “Ich habe zwar an diesem 29. Oktober 2007 nicht Dienst gehabt im Kaiserbründl, aber ich habe einiges gehört.” 

Was immer wieder in die Medien durchdrang und auch von den Ermittlern erzählt wurde: Es soll in der Sauna an diesem Tag einen ominösen Streit gegeben haben, der Aeryn Gillern dazu brachte, fluchtartig und nackt loszulaufen. Was aber immer seltsam war: Es gibt keine weiteren Informationen zu diesem Streit. Weder weiß man, ob es ihn tatsächlich gab, noch weiß man, wer involviert gewesen sein soll. 

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Jürgen Holzer kannte Aeryn Gillern. “Ich habe ihn unendlich oft gesehen, er war ein treuer Gast. Allerdings war er immer nur in der Sauna, er hat es geliebt, Aufgüsse zu machen. Und was auch bemerkenswert ist: Ich habe ihn nie nackt gesehen, er hatte immer sein Handtuch um.” Nach Holzers Erzählungen war Aeryn Gillern einer der wenigen Gäste, die nicht kamen, um die Spielwiesen zu nützen. “Er war einer der freundlichsten Männer, sehr offen, extrem höflich, immer gut gekleidet. Man hat auch gesehen, dass der für seinen Körper wahnsinnig viel tut”. Holzer erinnert sich aber an einen anderen Streit, in den Aeryn Gillern involviert war. “Das war einige Monate, bevor er verschwunden ist. Ich weiß den Namen des anderen Saunagastes nicht mehr genau, aber ich denke, er hat Roland geheißen und hat beruflich etwas mit Requisite gemacht.”

Die zwei seien unter der Dusche in eine Art Rangelei gekommen, Roland sei dabei gestürzt und habe anschließend darauf bestanden, dass die Rettung kommt. Holzer fand das total übertrieben. “Er hat sich dann hingelegt, wie ein sterbender Schwan, dabei hat er nur etwas geblutet.” Jedenfalls gingen sich die beiden von da an aus dem Weg und wollten immer gewarnt werden, wenn der andere da ist. Holzer sagt, dass es im Kaiserbründl ab und zu vorkam, dass manche sich bedrängt fühlten und sich dann gegen eine körperliche Berührung wehrten. Das liege in der Natur einer Sex-Sauna. 

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“Ob am Tag des Verschwindens etwas Ähnliches passiert ist, weiß ich nicht. Wäre eine doch sehr heftige Reaktion, nackt auf die Straße zu laufen. Wehren konnte er sich ja eigentlich”, meint Holzer weiter. Die Tatsache, dass er komplett nackt war, spräche dafür, dass es wieder ein Vorfall in der Dusche gewesen sein könnte. 

Gemunkelt wurde viel in den Wochen danach unter den Gästen. Manche sprachen von Drogen oder Anabolika, die ihn vielleicht dazu gebracht hätten, durchzudrehen. Alles Dinge, die man heute nicht mehr untersuchen kann. Doch auch damals hätte man mehr tun können. 

Der Fall erlang internationales Aufsehen, weil die Mutter Kathryn Gilleran massive Kritik an den Erstermittlern äußerte. Nachdem sie den Anruf erhalten hatte, dass Aeryn nicht zur Arbeit kam, ist sie in den nächsten Flieger von New York nach Wien gestiegen. “Die Polizisten hatten sehr schnell eine Version parat, was mit meinem Sohn geschehen ist. Sie meinten, er hätte einen positiven HIV-Test gehabt und wäre deshalb zum Donaukanal gelaufen, um sich darin spontan zu suizidieren. So ein Schwachsinn.” 

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Kathryn Gilleran hatte einerseits das Problem, dass sie als US-Amerikanerin kein Deutsch konnte, aber noch etwas fiel ihr sofort unangenehm auf. “Ich war selbst Polizistin, ich weiß, wie man richtig ermittelt und das ist einfach nicht passiert. Mein Sohn hat sie nicht interessiert und das haben sie mir von Anfang an gezeigt.”

Sie wandte sich an die Botschaft, recherchierte selbst in der hiesigen Schwulen-Community, sie schrieb sogar einen Brief an die damalige US-Senatorin Hillary Clinton und bat um Hilfe. „Ich habe niemals zuvor so viel Rohheit, Grobheit und Unprofessionalität erlebt“, schrieb sie. „Wenn ich sage, dass das Verhalten der Polizei an Sadismus grenzt, übertreibe ich nicht.“ Nicht zuletzt wäre sie mit zahlreichen homophoben Äußerungen konfrontiert gewesen. 

Mehrere Anfragen des KURIER an die Polizei blieben unbeantwortet oder wurden abgelehnt. 

Angst vor Wasser

Es ist jedenfalls gesichert, dass Aeryn Gillern das Kaiserbründl verlassen hat. Es gibt mindestens einen Zeugen, der ihn nackt draußen gesehen hat. Ein deutscher Student, der dachte, der Mann hätte eine Wette verloren. Wie wahrscheinlich ist es nun, dass er tatsächlich zum Donaukanal gelaufen ist und dort ertrunken ist?

Die Polizei stützt ihre Theorie auf den Anruf eines Fischers, der am 29. Oktober 2007 am Donaukanal saß. Er wählte um 20.21 den Notruf, wonach ein Mann im Wasser trieb und um Hilfe rief. Selbst bei diesem Notruf gibt es Widersprüche. Der Inhalt der Aussage des Fischers habe sich mehrmals geändert, heißt es etwa in Medienberichten von Joseph Gepp, der den Fall damals für den Falter akribisch beleuchtete. “Zuerst hieß es, da war ein Mann mit Glatze im Wasser, dann nur ein Mann und schließlich soll der Fischer nur einen Platscher gehört haben.”

Im KURIER-Interview erzählt die Mutter zudem, dass ihr Sohn panische Angst vor dem Wasser hatte. Er sei noch nie in seinem Leben in einen seichten Teich oder in ein Pool gesprungen. Er konnte nicht schwimmen. “Und dann soll er in der Dunkelheit in ein wildes, strömendes Gewässer springen?” 

Zahlreiche Ungereimtheiten

Abgesehen davon müsse man die doch sehr große Zeitspanne beachten. Laut Bundeskriminalamt soll Aeryn Gillern gegen 19 Uhr aus dem Kaiserbründl gerannt sein. Geht man den Weg zum Donaukanal Höhe Urania, wo der Fischer saß, in gemütlichem Tempo, so braucht man ungefähr acht Minuten dorthin. Der Anruf erging allerdings erst um 20.21. Wo soll Aeryn Gillern in der Zwischenzeit mitten in der City und komplett nackt gewesen sein?

“Außerdem stimmte auch die Information mit dem positiven HIV-Test nicht. In seinem Rucksack wurde ein ganz aktueller Befund sichergestellt, der war negativ”, erzählt die Mutter. Auch sonst spräche nichts für einen Suizid. Da waren gebuchte Flugtickets, die Waschmaschine lief, und frisch gebackene Kekse lagen am Wohnzimmertisch - gedacht für die anstehende Geburtstagsfeier eines Kollegen. “Aeryn wollte sich nicht umbringen, davon bin ich überzeugt”, so die Mutter. Er hatte einen Lebensgefährten, mit dem es Pläne gab und die Mutter hätte für längere Zeit nach Wien kommen sollen, damit er ihr sein neues Leben zeigen kann. “Das ergibt doch alles keinen Sinn.”

Das sahen auch die Grünen so und stellten eine parlamentarische Anfrage zu dem Fall an das damalige Innenministerium unter Maria Fekter im Jahr 2008. Liest man die Beantwortung, weiß man allerdings auch nicht viel mehr. Bei diesem Fall gibt es tatsächlich unzählige Ungereimtheiten. Der Akt blieb der Mutter bis heute nicht zugänglich. Auch aus dem Kaiserbründl erreichte sie und den KURIER in erster Linie eines: Das große Schweigen. 

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Ein Besuch bei der Feuerwache in der Leopoldstadt tut sein Übriges, um weitere Fragen aufzuwerfen. Es ist jene Wache, die damals zum Donaukanal samt Tauchzug gerufen wurde. Christian Feiler, seit 1989 bei der Wiener Feuerwehr, hat den damaligen Einsatzbericht herausgesucht. “Es ist eindeutig erkennbar, dass die Meinungen vor Ort damals sehr stark auseinander gegangen sind. Ob da ein Mann im Wasser war, wo der war, ob der hineingesprungen ist und von wo, Ufer oder Brücke? Manche meinten, da wäre jemand gestoßen worden. Andere wiederum haben überhaupt nichts gesehen und gehört. Wiederum andere meinten, der Mann wäre nicht nackt gewesen.” 

Auch die Volksanwaltschaft erwähnt den Fall in ihrem Bericht an den Nationalrat und an den Bundesrat im Jahr 2014. Darin steht: “...dass hier sehr wohl der Verdacht einer strafbaren Handlung vorliegt. Nach den Umständen wären schwere Nötigung, gefährliche Drohung, schwere Erpressung, eventuell auch Suchtgiftmissbrauch (jeweils mit Todesfolge) denkbar.” Im selben Jahr wanderte der Fall auf den Tisch der Cold-Case-Ermittler.

Es bleibe zu hoffen, dass trotz der fast sieben für eine effiziente kriminalpolizeiliche Ermittlung verlorenen Jahre letztlich doch noch Licht in das Dunkel des Falles gebracht werden kann, hieß es weiter in dem Bericht. Auch Christian Mader, Obmann des Vereins Österreich findet euch, der Angehörige von Vermissten betreut, hält ein Verbrechen nicht für ausgeschlossen. Auch ein Unfall wäre nicht undenkbar.

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Bis heute gibt es viele Fragen und kaum Antworten. Solange man keine Leiche findet, wird das auch so bleiben. Was auch bleibt, ist eine verzweifelte Mutter am anderen Ende der Welt, die wissen möchte, was mit ihrem Kind passiert ist. 

 

Hinweise bitte an das Bundeskriminalamt oder an dunklespuren@kurier.at

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