Hilfsprojekt in Nigeria: Damit die Menschlichkeit nicht untergeht
Von Anya Antonius
Knapp 5.000 Kilometer liegen zwischen Wien und Lagos – an diesem Nachmittag im Café Hawelka ist es ganz nah. „Es ist die größte und bevölkerungsreichste Stadt Nigerias. Jedes Kind im Land träumt von den Möglichkeiten, die Lagos bietet“, erzählt der 39-jährige Priester und Streetworker Linus Valentine Onyenagubor, der auf Einladung der Entwicklungsorganisation Jugend Eine Welt in Wien ist, um von seiner Arbeit zu erzählen.
Aber der Traum vom besseren Leben in der Megacity ist ein trügerischer, einer, der viele direkt ins Verderben führt.
Rund 15 Millionen Menschen leben alleine in Lagos – darunter mindestens 100.000 Straßenkinder. Die Bevölkerung leidet unter den Folgen der politischen und wirtschaftlichen Instabilität, der Inflation, der Korruption im Land. Viele Familien brechen auseinander und seien nicht in der Lage, für ihre Kinder zu sorgen, erzählt Onyenagubor.
„Auf der Straße gilt das Gesetz des Stärkeren. Aber ein Kind ist schon von Natur aus verletzlich“, sagt der Streetworker. Und das Leben auf den Straßen der Millionenmetropole ist gefährlich. Die Kinder schlafen exponiert unter Brücken, auf Gehsteigen, in Parks oder Abbruchhäusern, und leben in ständiger Gefahr, überfallen, geschlagen und missbraucht zu werden. Ihnen will Onyenagubor helfen – mit einem offenen Ohr, mit Trost und mit dringend benötigten Lebensmitteln.
Um den dafür nötigen Zugang zu den Kindern zu bekommen, muss er oft mit deren „Bossen“ verhandeln. Denn viele profitieren auch vom System Straßenkind. „Für diese Leute ist das ihr Geschäft. Und ein Kind, das Hunger hat, ist leicht zu manipulieren“, erklärt der Priester. So werden die Kinder und Jugendlichen eingesetzt, um zu stehlen oder Gewalt zu verbreiten, und bringen Unruhe in das ohnehin schon fragile soziale Gefüge der nigerianischen Megacity.
Bei seiner Arbeit auf der Straße kann der engagierte Streetworker vor allem den Buben helfen. Die Erklärung ist so einleuchtend wie traurig: Mädchen sind kaum zu erreichen.
Unsichtbare Mädchen
Im Gegensatz zu den Buben schlafen die meist durch Zwangsprostitution ausgebeuteten Mädchen nicht auf der Straße, sondern werden in Unterkünften versteckt gehalten. „Mädchen sind eigentlich die größere Herausforderung in unserer Arbeit mit Straßenkindern. Aber sie sind praktisch unsichtbar“, erklärt auch Reinhard Heiserer, Geschäftsführer von Jugend Eine Welt.
Für 15 Kinder gehört das Leben auf der Straße der Vergangenheit an. Im Don Bosco Kinderschutzzentrum in Lagos haben sie einen Platz und ein Zuhause auf Zeit gefunden. Hier werden sie geschützt untergebracht und erhalten Unterricht und eine Ausbildung, um ihren Lebensweg in eine positive Richtung zu lenken und ihnen eine echte Chance für die Zukunft zu geben.
Darüber hinaus dient das Haus auch anderen Straßenkindern als Anlaufstelle, wo sie sich duschen können, medizinisch versorgt werden und auch Unterricht erhalten. Und einmal im Monat sorgen die Salesianer Don Boscos mit einem Fest für etwas Leichtigkeit und Freude im sonst so harten Leben der Kinder und Jugendlichen.
Kreise ziehen
Ein weiteres Kinderschutzzentrum ist im Bau und soll noch in diesem Jahr fertiggestellt werden. Es wird 100 Kindern zwischen 9 und 15 Jahren, davon 80 Jungen und 20 Mädchen, ein dauerhaftes Zuhause bieten. Nach dem im Kleinen bereits erprobten System sollen aber noch viel mehr Kinder von der Einrichtung profitieren.
Das langfristige Ziel der Arbeit in den Kinderschutzzentren und auf der Straße ist klar: Die Wiedervereinigung mit der Familie, wo immer es möglich ist und ein sicheres Umfeld besteht. „Jedes Kind hat ein Recht auf Familie“, sagt Onyenagubor.
Wie verliert man angesichts der schweren Schicksale und dieser Mammutaufgabe nicht den Mut? „Es ist ein Anfang und besser, als gar nichts zu tun“, sagt der Streetworker. „Wir können in unserem neuen Heim 100 Kinder unterbringen, aber Hunderte mehr können unsere Einrichtungen nutzen und von ihnen profitieren. Das zieht Kreise.“
Heiserer stimmt zu: „Von außen sieht es vielleicht aus wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber es braucht diese Initiativen, um ein Zeichen zu setzen und zu zeigen, dass die Menschlichkeit nicht untergeht.“