Ein Besuch am Dachboden des Stephansdoms: Viel "Kramuri" und Geschichte
Von Anya Antonius
Betritt man erstmals den Dachboden des Stephansdoms, hat man das Gefühl, in einem Dom über dem Dom zu stehen. Der Eindruck täuscht nicht, schließlich würde das Mittelschiff von St. Stephan in seiner ganzen Höhe locker einmal in den Dachstuhl passen – und hätte noch Luft nach oben.
„Die Frage ist, warum haben sich die Baumeister ein so riesiges Dach angetan?“, fragt Reinhard Gruber, der Archivar des Doms bei einer Führung durch den Dachstuhl. Kurz gesagt, der Südturm ist schuld. Denn um ein optisch einheitliches Ensemble zu bieten, müsste der Turm so hoch sein wie die Kirche lang. Das ist hier nicht der Fall, der Südturm ist nach dieser Rechnung fast 20 Meter zu hoch. „Und das führt zu einem optischen Ungleichgewicht“, sagt Gruber. Die Lösung: Man stellte die Balance mit einem riesigen Dachstuhl wieder her.
Opfer der Flammen
Das nächste Problem, das sich den Erbauern stellte: Hätte man, wie üblich, einfarbige Dachziegel gewählt, hätte das Dach den Dom wiederum optisch dominiert. „Was macht man also in Wien? Man trickst.“ Und zwar indem man Dachziegel in zehn verschiedenen Farben in einem Zickzackmuster verlegte, das der Legende nach einem sarazenischen Teppich nachempfunden ist. „Dadurch wirkt das Dach luftig und leicht – eine optische Täuschung“, sagt Gruber. „Das macht den Dom in der Form einzigartig.“
Dass man heute, wenn man den Kopf in den Nacken legt, auf eine Stahlkonstruktion aus Treppen, Streben und Gehbalken blickt, ist dem schwersten Unglück in der Geschichte des Doms geschuldet – der Brandkatastrophe von 1945. „Der Dachstuhl war einst komplett aus Holz, bestehend aus 1.985 Baumstämmen, was einem Wald von der Größe der Wiener Josefstadt entsprechen würde“, erzählt Gruber. Die Konstruktion, „ein Meisterwerk gotischer Zimmermannskunst“, überstand mehrere Kriege. Doch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs sorgte Funkenflug aus den brennenden Nachbargebäuden für die Katastrophe. Das Feuer griff auf den Dachstuhl über, der vollständig ausbrannte.
Zwei Tage und zwei Nächte wütete das Feuer, dann stürzte das Gewölbe ein. Vieles ist dabei vernichtet worden. Am nächsten Tag kamen dann die Wienerinnen und Wiener zu den Ruinen des Doms. „Unter ihnen ein alter Mann mit zerbeulten Hosen, den Hut in der Hand, der gesagt hat: ,Na gut, dann müssen wir ihn eben wieder aufbauen. Das war Kardinal Innitzer, der damalige Erzbischof von Wien“, erzählt Gruber. Und tatsächlich, nur sieben Jahre später wurde der instandgesetzte Dom samt dem neuerrichteten Dachstuhl wieder feierlich eröffnet.
Beichtstühle und Sammelbüchsen
Was wird hier eigentlich gelagert? „Kramuri“, sagt Gruber und lacht. Was sich eben so ansammelt im Domalltag: ausrangierte Beichtstühle, alte Sammelbüchsen und Steinelemente, die restauriert werden. Dombaumeister Anton Pilgram, genauer gesagt ein Abguss seiner Büste im Dom, hat an die Wand montiert von seinem Aussichtspunkt ein Auge auf das Geschehen und Inventar des Dachbodens.
Gruber sperrt eine kleine Türe auf, die zum Gang außerhalb der Dreiecksgiebel des Daches führt. Während sich die Augen erst wieder an die Herbstsonne gewöhnen müssen, dringt von unten der Lärm der Menschen und das Geklapper der Fiakerpferde vom Stephansplatz entgegen. Trotzdem strahlt der luftige Gang neben dem steilen Dach eine gewisse Ruhe aus. „Ein schöner Ort zum Nachdenken. Hier herauszukommen, tut der Seele gut“, sagt Gruber.
G’schichtl mit Geschichte
Hier draußen ist man auch ganz nah dran an den bunt glasierten Dachschindeln. An einer Stelle des Daches sind sie in einer schwindelerregenden Neigung von 80 Grad verlegt.
„Man erzählt sich, dass sich für diese Stelle bei der Neueindeckung des Daches 1952 kein Mann gefunden hat, der sich das getraut hätte. Dann boten Frauen an, die Aufgabe zu übernehmen. Die Männer haben zugestimmt unter der Bedingung, dass die Frauen Männerkleidung tragen, damit man von unten nicht sieht, dass es Frauen sind. Das ist natürlich ein G’schichtl“, lacht Gruber. Was kein G'schichtl ist: Es haben sehr wohl Frauen beim Dachdecken mitgearbeitet – aber sie waren dabei nicht als Männer verkleidet.
„Das zeigt aber auch, was diese Bauten den Menschen bedeuten, sonst würden sie nicht so viel darüber erzählen. Es ist immer wieder spannend, den wahren historischen Kern herauszuschälen. Ich gehe mit großem Respekt an diese G’schichtln heran.“
Dass sich Reinhard Gruber dem Stephansdom unbeschwert nähern kann, ist übrigens alles andere als selbstverständlich. Als der Domarchivar vor rund 20 Jahren den Dom durch ein Seitentor betreten wollte, löste sich ein Teil der Fassade und krachte wenige Schritte hinter ihm zu Boden. Und zwar nicht irgendein Teil. „Wäre ich etwas langsamer gegangen, hätte mich das Zepter der Muttergottes erschlagen“, sagt er lachend. Seine Liebe zum Dom konnte das aber nicht erschüttern.