Als Polizist im Angesicht der häuslichen Gewalt
Von Christian Willim
Bei Familie Mayr geht es rund. Nachbarn haben die Polizei alarmiert. Per Funk werden wir zum „Einsatzort“ gerufen, der nur ein paar Meter über einen Gang der Tiroler Polizeischule entfernt liegt. Aus der Trainingswohnung ist lautstarker Streit zu hören.
Andreas Sturm, Leiter der Einsatztrainer am Bildungszentrum Absam, wirft das Journalistenduo ins kalte Wasser. Eine Übungswaffe umgeschnallt, sollen wir versuchen, „aus dem Bauch heraus“ zu reagieren.
Aufgeheizte Stimmung
Auf Aufforderung öffnet ein junger Mann die Tür und gewährt nur auf Drängen Zutritt. Schon ist man mitten in einer unübersichtlichen Situation. Im Raum stehen noch zwei Frauen – eine, mit Baby am Arm, entpuppt sich als Lebensgefährtin Herrn Mayrs, die zweite als deren Schwester. Die Stimmung ist aufgeheizt.
Die beiden „Polizisten“ trennen Aggressor und potenzielles Opfer räumlich, versuchen herauszufinden, was sich hier abgespielt hat, ob Gewalt im Spiel war. Am Ende beschließen die Laien, ein Betretungs- und Annäherungsverbot auszusprechen. Und sind sich danach einig, dass sie ziemlich überfordert waren.
Herr Mayr, seine Frau und seine Schwägerin werden von Polizeischülern gemimt und spielen das Szenario dann noch einmal mit zwei ihrer Kollegen als Streifenbeamte durch. So wie es die Ausbildung im Zuge des „modularen Kompetenztrainings“ auch tatsächlich vorsieht.
Wie sich polizeiliches Einschreiten anfühlt
Dass dabei alle Rollen von Polizeischülern eingenommen werden, ist nicht der Not geschuldet. „Sie sollen auch die Erfahrung machen, wie es einem geht, wenn die Polizei einschreitet“, erklärt Sturm. Er ist auch Koordinator dieses Kompetenztrainings für alle zwölf Polizeischulen in Österreich.
Dass eines der Module dem Einsatzszenario „Gewalt in der Privatsphäre“ gewidmet ist, ist kein Zufall. Es gehört schlicht – wie etwa ebenfalls in Rollenspielen trainierte Amtshandlungen von Verkehrsanhaltungen über Lärmerregung bis Körperverletzung – zu jenen Dingen, die laut Landespolizeidirektionen im Alltag „am meisten aufpoppen“, so Sturm.
Von allen in Tirol angezeigten Gewaltdelikten spielten sich in den vergangenen fünf Jahren zwischen 18 und 27 Prozent in der Privatsphäre ab. Werden die Polizisten zu Streitigkeiten in der Familie bzw. Partnerschaft gerufen, müssen sie – wie in dem Rollenspiel – aus der Situation heraus entscheiden, ob sie ein Betretungs- und Annäherungsverbot gegen einen Gefährder aussprechen.
Schon an Tag eins möglich
„Das kann ihnen am ersten Tag ihrer Dienstzeit passieren“, sagt der Ausbildner und erklärt den Sinn der Simulation: „Es geht darum, Handlungssicherheit zu gewinnen.“
Wegweisungen sollen verhindern, dass die häusliche Gewalt weiter eskaliert und im schlimmsten Fall gar tödlich endet. In den Fokus der Öffentlichkeit gerät das Thema meist, wenn es wieder einmal zu spät ist – wenn etwa eine Frau durch Männerhand stirbt oder ein Kind von den eigenen Eltern getötet wird.
Allein in Tirol werden pro Jahr mitunter über 1.000 Personen durch Betretungs- und Annäherungsverbote geschützt. Landespolizeidirektor Helmut Tomac würde sich noch „weitere Akzente“ wünschen, um die Gefahr für die Opfer zu minimieren.
Er stellt die Frage, „ob es nicht sinnstiftend wäre, sich auch um den Täter zu kümmern“. Er denkt an Unterkunftsmöglichkeiten für die Gefährder, die derzeit nach einem ausgesprochenen Betretungsverbot zunächst sich selbst überlassen würden.
Und dann vielleicht kurz nach der Amtshandlung in die Wohnung zurückkehren, aus der sie eben erst verbannt wurden – und zwar noch vollgepumpt mit Aggression.