Zeitgeschichte: Was mehr als 1000 Zeitzeugen Hugo Portisch erzählt haben
Was bestimmte Ereignisse betrifft, können Historiker demnächst aus dem Vollen schöpfen: „Allein zum Kriegsende 1945 gibt es 100 Zeitzeugen“, erzählt Hannes Leidinger vom Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung (LBI). Über ihre Erinnerungen an das Ende der Monarchie 1918 und die schwierigen Jahre danach geben immerhin 25 Zeitzeugen Auskunft. Und das ist nur ein winziger Teil dessen, was da gerade aufgearbeitet und in eine Datenbank eingespeist wird: Mehrere Institutionen rund um das LBI, das Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien und das ORF-Archiv erfassen mehr als 1.000 Zeitzeugen-Interviews, die Hugo Portisch ab 1981 für seine legendäre TV-Doku-Serie „Österreich I & II“ geführt hat. Dienstagabend wurde das von Zukunftsfonds und Land Niederösterreich finanzierte Projekt in der Diplomatischen Akademie in Wien vorgestellt.
Ideengeber war der Historiker Oliver Rathkolb, der lange für den renommierten Journalisten und ehemaligen KURIER-Chefredakteur gearbeitet hat: „Portisch hatte großes Interesse an neuen Quellen. Was dem Ganzen aber spezielle Würze gegeben hat und vor ihm niemand in diesem Ausmaß gemacht hat, war – Zeitzeugen zu suchen und zu interviewen. Und das nicht nur in Österreich.“
„Sucht nach Austriaca!“
Portisch selbst erinnerte sich an die weltweite Suche nach Austriaca, denn im ORF gab es nur 45 Minuten Material zum Thema. Der Bestand des Filmarchivs war verbrannt und die „Wochenschauen“ aus den Kinos wegen des Silbergehalts im Film verkauft. Also beauftragte er Scouts in den USA, Großbritannien, Deutschland, der DDR, Jugoslawien und vielen anderen Ländern mit den Worten: „Sucht nach Austriaca!“ Der ehemalige Bundespräsident Kirchschläger ermöglichte Portisch Zugang zum Sowjet-Archiv. „Wir haben überall viel gefunden“, resümierte Portisch. „Unser Bemühen war, so weit wie möglich an die Wahrheit heranzukommen.“
Nur Bruchteile wurden im TV verwendet. Jahre später kam Rathkolb der Gedanke, diese Interviews – „unser visuelles Gedächtnis mit Stand 1980er- und 1990er-Jahre, als viele Zeitzeugen noch gelebt haben“ – für die Forschung zugänglich zu machen. „Insgesamt muss man sagen, auch selbstkritisch an die Geschichtswissenschaften gerichtet: Da haben wir versagt. Das Institut für Zeitgeschichte hat ein einziges Oral-History-Projekt gemacht. Und Portisch hat da einiges vorgelegt“, sagt Rathkolb.
Leidinger ergänzt: „Ein riesiger Berg Material ist ungenutzt liegen geblieben (siehe Fakten oben) – etwa 1.200 Stunden Drehmaterial zur gesamten Geschichte der Republik. Vom Bundespräsidenten bis zur Geschichte von unten.“ Da kommen die Erinnerungen einer Bäuerin aus dem Burgenland genauso vor wie jene von Besatzungssoldaten aus den USA, im KZ Internierten, 1956 aus Ungarn Geflohenen .... Thematisch decken die Gespräche alles vom Ersten Weltkrieg bis zur Wende 1989 ab.
Rathkolb: „Für mich sind private Quellen wichtig, um Rahmenbedingungen von Entscheidungen besser zu verstehen, Entscheidungsträger anders einzustufen, Politik von unten zu sehen. Unser Problem ist, dass wir meist mit Herrschaftsquellen arbeiten. Da ein Korrektiv zu haben, ist ganz wichtig.“ Auch Leidinger hofft auf Aha-Erlebnisse: „Ich denke, dass viel mehr als atmosphärischer Erkenntnisgewinn drinnensteckt. Vor allem bei Themen, die bisher nicht so im Mittelpunkt standen, ist sicher Neues zu entdecken. Um aber ehrlich zu sein – wir wissen es noch nicht.“ Man erinnere sich: 1.200 Stunden, 1.046 Interviewte.
Dass man überhaupt so weit gekommen ist, ist vor allem Karin Moser und Kathrin Raminger vom LBI zu danken, die die Knochenarbeit machen: Es geht nicht nur darum, die Zeitzeugen zu erfassen – das Thema des Gesprächs, Orte und Namen, die genannt werden, müssen in der Datenbank verschlagwortet werden. „Und sollten im besten Fall auffindbar sein. Das ist eine technische Herausforderung“, sagt Leidinger.
„Portischs Dokus haben die Erinnerung an Erste und Zweite Republik ganz maßgeblich geprägt, es ist unser mündliches Gedächtnis“, ist auch die Leiterin des LBI, Barbara Stelzl-Marx, überzeugt und erzählt, wie es kam, dass es Leute gibt, die steif und fest behaupten, Leopold Figl hätte vom Balkon des Belvedere aus den legendären Satz „Österreich ist frei!“ gerufen. „Das wäre akustisch unmöglich gewesen. In Wahrheit hat er es gleich nach dem Unterschreiben des Staatsvertrages im Marmorsaal gesagt“, klärt die Historikerin auf. „Durch ,Österreich II‘ wurde die Szene, die so nie stattfand, Teil des kollektiven Gedächtnisses.“
Österreich I und II
Ab 1981 gestalteten Hugo Portisch und Sepp Riff eine historische Dokumentarfilmreihe über die Entstehung der Zweiten Republik, die das Geschichtsbild der österreichischen Jugend in den 1980er und 1990er Jahren prägte. 1989 folgten zwölf Folgen über den Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1918, die Geburt der Ersten Republik bis hin zum Anschluss an das Dritte Reich.
Die Doku-Serie war ein Straßenfeger: 1,5 Millionen Zuseher verfolgten die beiden Staffeln
1.046 Zeitzeugen
haben Portisch und sein Team im Laufe der Jahre interviewt. Nur Bruchteile des 1.200 Stunden umfassenden Drehmaterials wurden in den Fernsehsendungen verwendet
60 Prozent
sind mittlerweile aufgearbeitet und in eine Datenbank eingespeist. Sie soll künftig Forschung zu Geschichte ergänzen