Warum wir im Alltag immer mehr Psychopillen brauchen
Lange ging alles gut: Die 35-jährige Katharina F. kam mit den Anforderungen von Beruf und Familie gut zurecht. Doch dann benötigte eines der Kinder deutlich mehr Betreuung, viele Arzttermine waren zu koordinieren. Und Katharina F. musste ihre pflegebedürftige Mutter zu Hause aufnehmen. „Um trotz der Sorgen schlafen zu können, nahm sie Schlafmittel“, sagt Michael Musalek, ärztlicher Direktor des Anton-Proksch-Instituts in Wien. Untertags nahm sie Appetitzügler, die auch aufputschend wirken. „Innerhalb von eineinhalb Jahren geriet sie in eine schwere Abhängigkeit.“ Erst durch eine stationäre (in der Regel sechs bis acht Wochen) und anschließend ambulante Behandlung kam sie von den Medikamenten los.
Medikamentenabhängigkeit ist die dritthäufigste Sucht in Österreich – nach Alkohol- und Nikotinsucht, sagt . „Aber es fehlen zuverlässige Zahlen“, kritisierte er im Ö1-Morgenjournal. Studien seien notwendig. „Ich sehe im Alltag, dass immer mehr Menschen von Medikamenten abhängig sind und diese als Alltagsdoping verwenden“, so der Suchtexperte zum KURIER. Die Zahl der Menschen unter massivem Erfolgsdruck steige – und Frauen seien besonders betroffen. „Kommt dann zu Beruf und Kindern noch die Pflege eines Angehörigen dazu, wird es rasch oft zu viel.“
Er verwende den Begriff „Alltagsdoping“ bewusst als Parallele zum Doping im Sport: „Der Unterschied ist nur, dass es im Sport schon eine hohe Sensibilität gibt, im Alltagsleben aber noch gar keine. Da sind wir dort, wo die Sportler in den 50er- und 60er-Jahren waren. Das Problembewusstsein fehlt.“
Starker Anstieg
„Nach einem Höhepunkt in den 60er- und 70er-Jahren gab es bei der Medikamentenabhängigkeit bis zur Jahrtausendwende einen deutlichen Rückgang“, sagt der Vorarlberger Suchtexperte Reinhard Haller: „Seither merken wir einen starken Anstieg. 35 bis 40 Prozent der Suchtpatienten im Krankenhaus Maria Ebene haben Medikamentenprobleme – 200 bis 250 im Jahr. Männer sind deutlich öfter betroffen als früher.“ Auch die reine Medikamentenabhängigkeit (ohne andere Suchtformen) habe zugenommen. „Zwischen 1990 und 2005 hingegen hatten wir auch Jahre ohne auch nur einen medikamentenabhängigen Patienten.“
Die vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger erfassten Verschreibungszahlen zeigen bei stimulierenden, aktivierenden Präparaten einen Anstieg der Verordnungen um rund 20 Prozent seit 2013. Auch bei bestimmten Schmerzmittelgruppen ist der Anstieg deutlich (siehe Grafik): „Schmerzmittel werden nicht nur wegen ihres schmerzlindernden, sondern auch wegen des entspannenden Effektes genommen.“ Zwar gibt es einen leicht rückläufigen Trend bei den Benzodiazepinen: Allerdings sind Verschreibungen unterhalb der Rezeptgebühr (sechs Euro derzeit) nicht erfasst. Und: Zunehmend bestellen sich Patienten solche Präparate im Internet – in Österreich ist allerdings der Verkauf von rezeptpflichtigen Präparaten über das Internet verboten. Auch ist die Gefahr von Fälschungen groß.
„In manchen Bereichen sind all diese Medikamente ja ein Segen – etwa ein Schlafmittel in der Nacht vor einer Operation“, betont Haller. „Aber ein Medikament schenkt einem nichts. Die Entspannung, die Ruhe, die es einem gibt, fordert es im Entzug durch Unruhe und Spannung zurück.“
Er wolle nicht den Teufel an die Wand malen, „aber der Trend geht in eine medikamentengesteuerte Gesellschaft“, warnt Haller.
"Perfektionismus ist das Grundübel"
Nachgefragt: Psychotherapeut Stippl über Doppelbelastung, helfende Mütter und späte Einsicht. Von Sarah Stoffaneller.
Wie es zu Tablettenabhängigkeit kommt und was bei Frauen anders ist, weiß Peter Stippl, Präsident des Psychotherapeutenverbandes Österreich.
KURIER: Wie kommt es zu einer Medikamentenabhängigkeit?
Peter Stippl: Oft lässt sich das gleiche Muster erkennen. Die Belastung erreicht einen gewissen Punkt und man geht zum Hausarzt, der Medikamente verschreibt, die tatsächlich helfen. Man fühlt sich besser und kann sein Leben genauso weiterführen wie bisher. Somit scheint das Problem gelöst und die Betroffenen glauben, ihr Leben nicht ändern zu müssen. Das ist meist der Beginn einer Abwärtsspirale. Bald brauchen sie mehr Medikamente und noch höhere Dosen, um den Alltag zu bewältigen.
Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Grundsätzlich ist die Dynamik bei Männern und Frauen gleich. Auslöser sind bei beiden Geschlechtern Überbelastung, ein Gefühl der Ausweglosigkeit oder Ängste. Männer kommen meist durch ihren Karrierewillen in solche Stresssituationen. Bei Frauen sind es oft Mehrfachbelastungen, wenn sie Job, Familie und manchmal auch Pflegeaufgaben vereinbaren müssen. Ein wichtiges Schlagwort ist hier: Perfektionismus.
Wie äußert sich dieser Perfektionismus bei Frauen?
Bei Frauen ist er offensichtlicher als bei Männern, und in vielen Lebensbereichen sichtbar. So ist für viele der Haushalt eine Visitenkarte. Auch bei den Kindern muss alles reibungslos funktionieren – innerer Antrieb ist immer der Leistungsanspruch an einen selbst.
Kann die Familie unterstützen?
Ja. Aber Hilfe aus der Familie kann auch problematisch sein. Wenn z. B. eine Schwester oder wohlwollende Schwiegermutter eingreifen will, fühlen sich manche Frauen angegriffen und ziehen sich zurück. Dann hat ein gut gemeinter Rat den gegenteiligen Effekt. Ein Hausarzt oder Psychotherapeut hat da auf jeden Fall eine andere Autorität und kann unbefangen Lösungsvorschläge bieten. Am wichtigsten ist es, das Problem zu identifizieren, das zur Überbelastung geführt hat. Die Medikamente bekämpfen nur die Symptome, aber nicht deren Ursache. Dann braucht es die nötige Einsicht, um tatsächlich etwas an der eigenen Situation zu verändern.
Wann holen sich Frauen Hilfe?
Häufig kommt es zuerst zu einem emotionalen Zusammenbruch, bevor die Betroffenen Hilfe in Anspruch nehmen, wobei meist eine Extremsituation den Patienten zur Einsicht verhilft, dass sie ein Problem haben. Das Sprichwort „no pain, no change“ (kein Schmerz, keine Veränderung, Anm.) bringt das auf den Punkt. Allerdings gibt es auch Frauen, die schon früh erkennen, dass es so nicht weitergehen kann und auf Rehabilitation gehen. Wenn sie drei bis sechs Wochen von zu Hause entfernt sind, haben sie genug Abstand, um die Situation zu überdenken.