Kippendes Klimasystem: Warum eine Heißzeit droht
Von Ute Brühl
Manchmal erklärt ein Bild mehr als tausend Studien. Das weiß auch Hans Joachim Schellnhuber, Leiter des renommierten Potsdamer Instituts für Klimaforschung, der das Bild von schweren Felsbrocken am Strand zeichnet: „Würden diese langsam, aber unaufhörlich unterspült, könnte irgendwann schon die Landung einer Fliege an einem neuralgischen Punkt ausreichen, um den Felsen kippen zu lassen.“
Genauso sei es mit dem System Erde. Der Klimawandel hat manche Regionen so verändert, dass es nur eine kleine, scheinbar unbedeutende Störung braucht, um das Umweltsystem zum Kippen zu bringen, weshalb sie von Wissenschaftlern auch Kipp-Punkte bzw- Kipp-Elemente genannt werden.
Ein internationales Forscherteam hat jetzt gemeinsam mit den Potsdamern herausgefunden, dass diese Kipp-Punkte schneller erreicht sein könnten als gedacht. Diese könnten langfristig zu einer Heißzeit auf der Erde führen. Was das bedeutet? Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Dass es Kipp-Punkte gibt, war bisher schon bekannt. Was ist an der Studie jetzt neu?
Bisher war man davon ausgegangen, dass die globale Erwärmung bei 1,5 C bis 2 C gestoppt werden kann. Co-Autor Jonathan meint gegenüber dem KURIER, „dass schon bei etwa 2° C Temperaturanstieg im Vergleich zum vorindustriellen Niveau nicht ausgeschlossen werden kann, dass Kipp-Elemente im Erdsystem ausgelöst werden.“ In der Praxis bedeutet das, dass „wir uns nicht darauf verlassen können, dass das Klima langfristig bei 2° C Erwärmung ,geparkt‘ werden kann – selbst wenn alle Staaten das Pariser Klimaabkommen tatsächlich umsetzen“, erläutert Donges.
Welche Folgen haben Kipp-Punkte fürs Klima?
Die Kipp-Elemente könnten sich wie eine Reihe von Dominosteinen verhalten, wie Johann Rockström vom Stockholm Resilience Center erklärt: „Wird einer von ihnen gekippt, schiebt dieses Element die Erde auf einen weiteren Kipp-Punkt zu. Es könnte sehr schwierig oder sogar unmöglich sein, die ganze Reihe von Dominosteinen davon abzuhalten, umzukippen. Manche Orte auf der Erde könnten unbewohnbar werden, wenn die ‚Heißzeit‘ Realität würde.“ Als ‚Rückkopplungseffekte‘ bezeichnet das Jonathan Donges.
Wie heißt könnte es in einer Heißzeit werden? Was heißt das für das Leben der Menschen auf der Erde?
„Erleben wir solche Dominoeffekte, würde dies langfristig die Funktionsweise unseres Planeten grundlegend verändern“, erläutert Donges. Langfristig könnte sich das Klima auf der Erde um 4° C bis 5° C im Vergleich zur Zeit der Industrialisierung erhöhen. Der Meeresspiegel würde dann um 10 bis 60 Meter ansteigen. Die Wissenschaftler sprechen deshalb von einer Heißzeit.
Wie sehr steigt die Temperatur weltweit derzeit an ?
Im Vergleich zum vorindustriellen Niveau hat sich die globale Durchschnittstemperatur bereits um gut 1° C erhöht. Alle zehn Jahre steigt sie nochmals um etwa 0,17° C an.
Wurden bestimmte Kipp-Punkte bereits überschritten?
Mit jedem Grad mehr auf der Erde gibt es mehr Kipp-Punkte. Ein Plus von 1,5 ° C bis 2° C führt dazu, dass die Eisschilde in der Westantarktis und in Grönland schmelzen. Grönland ist ein trauriges Beispiel für Kipp-Punkte, also ein sich selbstverstärkendes Rückkupplungssystem: Normalerweise reflektiert das Eis die einfallenden Sonnenstrahlen. Wo das helle Eis schwindet, kommt meist ein dunklerer Untergrund zum Vorschein – sei es das felsige Bett eines Gletschers oder das Meer. Folge: Die dunkle Oberfläche nimmt mehr Sonnenwärme auf, und das verbliebene Eis schmilzt noch schneller.
Keine gute Nachricht für die rund eine Million Menschen, die in der Arktis wohnt. Tauende Böden führen zu Schäden bei Straßen oder Gebäuden und die Region wird schwerer bewohnbar werden.
Welche Regionen könnten neben der Arktis noch besonders betroffen sein?
Als Beispiel für eine besonders betroffene Gegend nennt Donges die Region um den Persischen Golf: „Da es dort durch die hohen Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit physiologisch nicht mehr dauerhaft möglich sein wird, die Körpertemperatur zu regulieren, könnte die Region für Menschen in Zukunft nicht bewohnbar sein.“
Welche Kipp-Punkte kennen Forscher neben Arktis und Antarktis noch?
Insgesamt zählen die Studienautoren zehn natürliche Rückkopplungsprozesse auf. So könnten sich z.B. Kohlenstoffspeicher in Kohlenstoffquellen verwandeln, die in einer wärmeren Welt unkontrolliert Emissionen freisetzen würden.
Zu den kritischen Prozessen gehören insbesondere tauender Permafrost, der Verlust von Methanhydraten vom Meeresboden, eine Schwächung von Kohlenstoffsenken (=Kohlenstoffreservoir, Anm.) an Land und in den Ozeanen, eine zunehmende bakterielle Atmung in den Ozeanen, das teilweise Absterben des Amazonas-Regenwaldes sowie der Wälder im Norden Eurasiens und Nordamerikas.
Gibt es überhaupt Möglichkeiten, die Kipp-Punkte noch aufzuhalten?
Um das Risiko des Kippens möglichst gering zu halten, müsste die Erwärmung im Sinne des Pariser Abkommen bei spätestens 2° C gestoppt werden, und zwar möglichst schnell. „Allerdings untersuchen wir in unserer Studie Möglichkeiten, nicht Wahrscheinlichkeiten. Um also einen Sicherheitsabstand zu der 2° C-Schwelle einzuhalten, sollte das im Pariser Abkommen vereinbarte Ziel, die Erderwärmung auf 1,5° C zu begrenzen, ambitioniert umgesetzt werden“, sagt Forscher Donges.
Wenn Klimaforscher freie Hand hätten: Welche Maßnahmen würden sie umsetzen?
„Die Erderwärmung im Sinne des Pariser Abkommens ist soweit wie möglich zu begrenzen“, macht Donges klar: „Das erfordert eine schnelle Dekarbonisierung des Wirtschaftssystems.“ Im Klartext: Mit der Verbrennung von fossilen Brennstoffen muss Schluss sein.
Die Gesellschaft muss sich ebenfalls auf Veränderungen einstellen: „Wir brauchen eine Transformation, die technologische Innovationen, neue Politikinstrumente, Verhaltensänderungen und letztlich einen grundsätzlichen Wertewandel umfasst“, sagt der Potsdamer Forscher.