High-Tech-Anzug: Wie Querschnittgelähmte wieder gehen können
„Es ist ein tolles Gefühl. Ich bewege mich wie Michael Jackson und bin ein bisschen erledigt, aber es macht sehr viel Spaß“, freut sich Florian Dungl. Das Exoskelett, das er über seiner Kleidung trägt, ermöglicht ihm zum ersten Mal seit elf Jahren, wieder zu gehen. Durch einen Badeunfall ist der 32-Jährige vom fünften Halswirbel abwärts gelähmt und sitzt im Rollstuhl. Heute bringen jeweils zwei elektrische Motoren bei den Knien und den Hüften den Körper des jungen Mannes zum Aufstehen. Ob er stehen, gehen oder sich drehen soll, wird über eine Fernbedienung gesteuert. Die 27 Kilogramm des High-Tech-Anzugs spürt Dungl nicht, sie werden vom Exoskelett getragen. Er muss sich aber sehr konzentrieren, sein Körpergewicht so zu verlagern, dass das Exoskelett seine Beine zum Gehen bringen kann.
Sensoren in den Sohlen
„In den Fußsohlen des Geräts sind Drucksensoren, die erkennen, ob man eine gute Standbeinphase erreicht hat, und dann den Schritt auslösen“, erklärt Physiotherapeut Dennis Veit. 500 Mal pro Sekunde wird so gemessen, wie viel der Träger des Anzugs selbst einbringt und wie viel Unterstützung das Gerät geben muss. Florian Dungl ist nach den ersten 200 Schritten begeistert: „Ich will mich dauernd aufziehen und anhalten, aber ich fühl’ mich urgut.“
Dungl ist einer von 35 Teilnehmern, die das Exoskelett der Firma Ekso Bionics diese Woche in der Messe Wien für jeweils eineinhalb Stunden testen können. Initiiert wurden die Probetrainings, die von den Österreichischen Lotterien gesponsert werden, von Gregor Demblin. Er ist seit einem Badeunfall vor 20 Jahren selbst querschnittgelähmt und möchte mit seinem Unternehmen tech2people ein Zentrum aufbauen, in dem Exoskelett-Therapien angeboten werden. „Der Bedarf ist sehr groß, allein im Umkreis von Wien könnten Tausende Menschen profitieren. Derzeit gibt es in Österreich nur zwei Reha-Zentren, die ein Exoskelett haben. Das können aber nur stationär aufgenommene Patienten nutzen“, sagt Demblin.
„Unglaubliches Gefühl“
Rund 40 Mal hatte er den Anzug bereits an, das Aufstehen ist für ihn jedes Mal ein „magischer Moment“. „Am Anfang war es ein unglaubliches Gefühl, plötzlich wieder groß zu sein und diese Bewegung in den Beinen zu haben. Ich hatte völlig vergessen, wie sich das anfühlt und war total aufgewühlt. Mir sind die Tränen gekommen“, erzählt Demblin.
Alle zwei Wochen reist Physiotherapeut Veit aus Deutschland an und trainiert mit Demblin. Veit ist der Einzige in Europa, der sich außerhalb eines Reha-Zentrums ein Exoskelett angeschafft hat und damit Therapien anbietet. Das möchte Demblin auch in Österreich umsetzen, noch ist er auf der Suche nach Sponsoren für das 120.000 Euro teure Therapiegerät.
Neben Gangtraining für Querschnittgelähmte kann das Exoskelett auch nach einem Schlaganfall, bei Multipler Sklerose sowie bei anderen neurologischen Krankheiten, die zu Bewegungseinschränkungen der unteren Extremitäten führen, genutzt werden. Etwa eine Stunde kann der Anzug getragen werden. Grenzen setzt vor allem das Herz-Kreislauf-System. „Betroffene sind es gewohnt, immer zu sitzen, dadurch ist die Durchblutung eine andere. In dem Moment, wo ich mich aufrichte, geht plötzlich ein Teil des Blutes in die unteren Extremitäten. Das Herz und der Rest des Körpers müssen erst lernen, sich an diese neue Situation anzupassen“, erklärt der Mediziner Siegfried Meryn.
Das Training mit dem Exoskelett habe aber zahlreiche positive Auswirkungen: Nervenschmerzen, die Blasen-Darmfunktion und die Sexualfunktion, Krämpfe sowie das allgemeine Wohlbefinden bessern sich. Für die Träger ist es ein tolles Erlebnis, aufrecht zu sein und zu gehen, was sich wiederum positiv auf die Motivation für Therapien auswirken soll.
Im Alltag kann das Exoskelett derzeit noch nicht genutzt werden, da es das Gleichgewicht des Trägers noch zu wenig hält. „Ich bin überzeugt, dass Exoskelette für Querschnittgelähmte die Fortbewegungsform der Zukunft sind. Im Moment sind sie ein reines Therapiegerät, aber in zehn Jahren kann man sie vielleicht unter der Kleidung tragen und damit Bergsteigen“, sagt Demblin.
400 Diagnosen pro Jahr
Bei einer Querschnittlähmung ist die Nervenleitung im Rückenmark unterbrochen – die Übertragung elektrischer Nervenimpulse zwischen Gehirn und Körper funktioniert nicht mehr. Bei einer kompletten Querschnittlähmung sind alle Nervenbahnen durchtrennt. Es kommt kopfabwärts zu Lähmungen, Betroffene spüren weder Schmerz noch Berührung. Bei einer inkompletten Querschnittlähmung wurde das Rückenmark nur zum Teil durchtrennt. Manche Funktionen können erhalten sein. Unter Umständen können die Beine bewegt werden, oft unterstützt durch Gehhilfen. Weltweit sind rund drei Millionen Menschen querschnittgelähmt. In Österreich werden jedes Jahr etwa 400 neue Querschnittlähmungen diagnostiziert, meist nach Verkehrsunfällen.
Was derzeit möglich ist
In den vergangenen Jahren gaben aufsehenerregende Fälle Querschnittgelähmten Hoffnung, dass sie eines Tages wieder gehen können. Der neueste Fall wurde Ende September bekannt: Mittels elektrischer Rückenmarkstimulation konnte ein Amerikaner 102 Meter zurücklegen. Über einen Chip im Rückenmark lösen elektrische Impulse die Bewegung in den Beinen aus. Für seine Schritte benötigte er einen Rollator und eine Stütze an der Hüfte durch einen Therapeuten.
2014 konnte ein von der Hüfte abwärts gelähmter 38-jähriger Pole einzelne Schritte machen. Spezielle Nasenzellen bildeten eine Brücke zwischen durchtrennten Teilen des Rückenmarks. Mit Stütze konnte der Mann eine kurze Strecke gehen. 2016 gelang es einer 32-jährigen Amerikanerin, mithilfe eines eigens konstruierten Exoskeletts zu gehen. Der Stützanzug konnte über Gedankensignale aktiviert werden. Die junge Frau hob ihr Bein nach langem Training selbst an. Dies gelang mithilfe eines Computers, einer Elektrodenkappe und einer Virtual-Reality-Brille, über die sie auf die Beine ihres „virtuellen Doppelgängers“ blickte und versuchte, diese zu bewegen wie ihre eigenen.
Chip im Gehirn
Erfolge gab es auch bei von den Schultern abwärts gelähmten Patienten: Ein 27-jähriger Amerikaner, dessen Arm nach einem Tauchunfall gelähmt war, kann diesen seit 2016 dank eines Chips im Gehirn wieder bewegen. Dieser setzt Muster von Hirnaktivitäten in Bewegungen um. Die Hirnsignale steuern eine Manschette, die bestimmte Muskeln im Unterarm stimuliert. Auch ein 56-jähriger Amerikaner kann seinen Arm seit 2017 wieder nutzen: Zwei Sensoren im Gehirn erkennen, welche Bewegung er mit seiner Hand ausführen möchte und leiten den Befehl an ein Stimulationsgerät weiter. Die Impulse lösen die Bewegung aus.
Alle Technologien wurden bisher nur in Laborsituationen bei Patienten eingesetzt und bedürfen aufwendiger begleitender Therapien. Noch können sie nicht standardmäßig im Alltag genutzt werden. Ziel ist es, eine Möglichkeit zu finden, die Querschnittgelähmten den Alltag erleichtert und Gehen wieder möglich macht.