Experte warnt: "Die häusliche Pflege wird verraten"
Sich nicht mehr an- und auskleiden können; nicht mehr einkaufen, die Wäsche waschen, die Wohnung reinigen und beheizen, ohne Unterstützung außer Haus gehen können; auch keine warme Mahlzeit mehr kochen und die Medikamente nicht mehr einnehmen können sowie Hilfe beim Baden und Duschen benötigen: Ein derart hoher Pflegebedarf bedeutet trotzdem erst Pflegegeldstufe 2. Monatliches Pflegegeld: 290 Euro.
„Ein geraffter Pflegebedarf, der einer Halbtagsbeschäftigung gleichkommt, entspricht erst Pflegegeldstufe 1 – das sind 157,30 Euro im Monat“, sagt der Arbeits- und Sozialrechtsexperte sowie Richter am Landesgericht Wels, Martin Greifeneder (Bild unten).
Er kritisiert, dass die Diskussion derzeit vor allem vom Ausgleich der finanziellen Mehrkosten für die Länder durch den Wegfall des Pflegeregresses dominiert wird. „Aber es geht kaum darum, wie man die häusliche Pflege entlasten kann.“ Und er spricht von einem „Verrat an der häuslichen Pflege“ und einem „Im stichlassen“ der Gepflegten und Pflegenden.
Warum? „Im Regierungsprogramm ist eine Erhöhung des Pflegegeldes erst ab Pflegestufe 4 angekündigt. Aber damit sind 68 Prozent der Pflegegeldbezieher – jene in den Stufen 1 bis 3 – von der Erhöhung wieder ausgeschlossen. Und das ist genau die Gruppe, die überwiegend zu Hause gepflegt wird.“
Denn eine Aufnahme in eine stationäre Langzeitpflege soll – nach dem neuen Pflegefondsgesetz – „möglichst erst bei Vorliegen der Pflegegeldstufe 4“ erfolgen: Damit profitieren von einer Erhöhung erst ab dieser Stufe primär die Länder und Gemeinden. „Man kann sich nur unschwer des Eindrucks erwehren, dass damit in Wirklichkeit zumindest zum Teil ein von den Ländern geforderter Ausgleich für den Entfall des Pflegeregresses beabsichtigt ist“, sagt Greifender.
Eigentlich sollte das Pflegegeld ja eine möglichst lange Wahlfreiheit ermöglichen: Zwischen der Pflege zu Hause – mittels Zukauf mobiler Pflegeleistungen – und einer Pflege in einer stationären Einrichtung. „Aber durch den Wertverlust des Pflegegeldes ist das immer schwieriger.“ Obwohl sich Österreich mit dem Unterzeichnen der Behindertenrechtskonvention verpflichtet hat, diese Wahl des Aufenthaltsortes zu ermöglichen.
Wie groß dieser Wertverlust seit 1993 ist, hat Greifeneder jetzt in der Österreichischen Zeitschrift für Pflegerecht genau dokumentiert (siehe nachstehende Grafik).
Ein Beispiel: 1993, im Jahr der Einführung, betrug die Höhe des Pflegegeldes in Stufe 2 254,35 Euro monatlich. Derzeit sind es 290 Euro. Wäre der jährliche Wertverlust durch die Inflation berücksichtigt worden, dann müssten es allerdings 395,77 Euro sein – also im Monat um fast 106 Euro mehr.
35 Prozent
„Das Pflegegeld müsste – im Mittelwert aller Stufen – um rund 35 Prozent erhöht werden, um den Wertverlust seit seiner Einführung 1993 auszugleichen.“ Da dieser Ausgleich aber nicht erfolgt, sei die Finanzierbarkeit der Pflege zu Hause zunehmend gefährdet: „Denn die Pflegeleistungen werden ja trotzdem teurer. Das Land Oberösterreich etwa hat die Kosten für die mobilen Dienste 2018 mit einer Erhöhung um 2,2 Prozent an die Inflation wertangepasst. Beim Pflegegeld aber bleibt das aus.“
80 Prozent der häuslichen Pflege werden von Frauen geleistet: „Viele nehmen einen Einkommensverzicht in Kauf und bleiben zu Hause, sind dabei einer großen psychischen und körperlichen Belastung ausgesetzt. Wird hingegen jemand in einem Heim gepflegt, können die Angehörigen Vollzeit weiterarbeiten – und alles zahlt der Staat. Das ist eine Diskriminierung der vielen Frauen, die zu Hause pflegen und das derzeitige System tragen.“
Einstufung wird Aufwand oft nicht gerecht
Ein weiteres Problem ist oft die Pflegegeldeinstufung. Bei Menschen mit Demenz zum Beispiel: Ihnen merkt man den tatsächlichen Pflegenaufwand auf den ersten Blick oft gar nicht an – die körperliche Situation ist meist eine viel bessere als die geistige. Deshalb wird seit einigen Jahren bei Menschen mit einer schweren geistigen oder schweren psychischen Behinderung – insbesondere einer demenziellen Erkrankung – ein „pauschaler Erschwerniszuschlag“ in der Höhe von 25 Stunden pro Monat berücksichtigt.
Etwa dann, wenn sich „Defizite der Orientierung, des Antriebs, des Denkens, der planerischen und praktischen Umsetzung von Handlungen, der sozialen Funktion und der emotionalen Kontrolle in Summe als schwere Verhaltensstörung äußern“, wie es in den Bestimmungen heißt.
Kriterien zielen primär auf körperliche Situation
„Dieser Zuschlag hat die Situation verbessert, aber trotzdem ist es oft sehr schwierig für Menschen mit einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung, auf jene Pflegegeldstufe zu kommen, die dem tatsächlichen Aufwand entspricht“, sagt Sozialrechtsexperte Martin Greifender. Denn die Kriterien für die Einstufung „zielen primär auf die körperliche Situation ab“.
Wer gegen seinen Einstufungsbescheid beim Sozialgericht klagt, hat aber gute Chancen: „Jedes zweite Verfahren endet mit der Bewilligung einer höheren Pflegegeldstufe.“