Fragen und Antworten: Wie gefährlich ist die Virus-Mutation?
Von Anita Kattinger
Die vor Kurzem in England entdeckte neue Variante des Coronavirus sei „außer Kontrolle“: Mit dieser Warnung versetzte der britische Gesundheitsminister Matt Hancock am Sonntag Europa in Schrecken. Aus Angst, die deutlich ansteckendere Mutation des Coronavirus namens VUI2020/12/01 einzuschleppen, riegelten mehrere Länder ihre Flughäfen für britische Flugzeuge ab.
Was wir bisher wissen:
Wie unterscheidet sich die neue Virus-Mutation in Südengland von anderen Mutationen?
Laut der britischen Regierung sei die neue Coronavirus-Variante zu 70 Prozent ansteckender als bisher bekannte Varianten. Solche Angaben basieren auf epidemiologischen Modellen: Dabei wird analysiert, wie schnell die neue Variante die bisherigen verdrängt. Es gibt keine Hinweise aus Großbritannien, dass sie tödlicher sei oder schwerere Krankheitsverläufe auslöse. Der oberste wissenschaftliche Regierungsberater Patrick Vallance betonte, dass im Dezember 60 Prozent der Neuinfektionen in London die neue Variante betroffen hätten. "Sie breitet sich rasch aus und ist dabei, die dominierende Variante zu werden."
Warum ist Großbritannien derartig alarmiert?
Aus Angst davor, dass das Gesundheitssystem kollabieren könnte. Derzeit befinden sich mehr als 18.000 Infizierte in britischen Krankenhäusern, das sind fast so viele wie zum Höhepunkt der ersten Infektionswelle im Frühjahr.
Ist die neue Variante in Österreich nachgewiesen worden?
Virologe Andreas Bergthaler vom Zentrum für Molekulare Medizin in Wien im KURIER-Interview: "Diese Variante aus Südengland ist durch 17 Mutationen charakterisiert. Wir kennen keine Virus-Probe aus Österreich, die diese 17 aufweist." Nach Einschätzung des deutschen Virologen Christian Drosten sei die Mutation wohl aber bereits in Deutschland angekommen: "Es ist schon in Italien, in Holland, in Belgien, in Dänemark, sogar in Australien, warum sollte es nicht in Deutschland sein", sagte der Berliner Forscher im Deutschlandfunk. Mehr dazu lesen Sie hier:
Wie schätzen Virologen die Gefährdungslage ein?
Abwartend. Drosten erklärte, dass die Verbreitung der Virus-Mutation Zufall sein könnte und nicht zwingend einen Selektionsvorteil mit sich bringen muss. Möglich sei es aber. Bergthaler erklärt: "Einerseits gibt es ständig Virus-Mutationen – das ist nichts Neues. Es sind Tausende Mutationen im Spike-Protein beschrieben.“ Was in diesem Fall aber von besonderem Interesse ist: Das Virus hat in Südengland viele Mutationen angesammelt und hat sich dort stark ausgebreitet. "Das kann aber auch mit Zufällen wie Superspreading-Events zusammenhängen, wo Superspreader diese Virus-Varianten weiterverbreitet haben. Man muss mit der Deutung vorsichtig sein." Die These, dass sich die neue Variante schneller als bisher ausbreitet, hält Richard Neher, Bioinformatiker vom Biozentrum der Universität Basel, im Interview mit dem Spiegel dagegen für naheliegend.
Wirken Impfstoffe gegen die neue Virus-Mutation?
Zwar betreffen die Mutationen das sogenannte Spike-Protein, auf dessen Struktur die Impfstoffe von Pfizer/BioNTech und Moderna setzen. Laut Experten besteht aber kein Grund zur Sorge: Impfstoffe erzeugen eine Immunreaktion gegen mehrere Virus-Merkmale. Veränderungen einzelner Merkmale würden deshalb nicht dazu führen, dass das Immunsystem den Erreger nicht mehr erkenne, sagt Neher.
Wieso unterscheiden sich die Experten-Wortmeldungen von jenen der Politiker?
Virologe Bergthaler hat den Eindruck, "dass die britischen Politiker diese Virus-Variante als Argument für ihren Strategiewechsel zu Weihnachten benützen". Im Vergleich dazu seien "die Reaktionen der Wissenschafter – auch der britischen – sehr vorsichtig. Man kann nicht ausschließen, dass diese Mutationen ansteckender sind, man hat aber keinen Beweis dafür."
Sind Virus-Mutationen ungewöhnlich?
Nein. Weltweit hat sich die Virusvariante D614G durchgesetzt – ebenfalls eine Mutation, die den ursprünglichen "Wildtyp" aus Wuhan zurückgedrängt hat. Schon hier warnten einige vor einer höheren Infektiosität, die im Labor nachgewiesen werden konnte. Ob die Variante auch leichter verbreitet werden kann – oder bei einer Infektion "nur" mehr Zellen befällt –, kann die Wissenschaft nicht eindeutig beantworten. Insgesamt gilt, dass sich Sars-CoV-2 mit rund zwei neuen Mutationen pro Monat in seinem rund 30.000 genetische Buchstaben großen Genom im Vergleich zum Grippe-Virus relativ langsam entwickelt.