25 Prozent der Jugendlichen haben Hörschäden
Im Bus die aktuelle Lieblingsband aus dem mp3-Player, am Abend stampfender Techno zum Sport und am Wochenende in Disco oder Club zu Sounds aus Mega-Boxen abtanzen: ständige Beschallung steht heutzutage an der Tagesordnung. Mit unbedachten Folgen, sagt HNO-Arzt Michael Arnolder. "Die Schäden summieren sich. Schon 25 Prozent aller Jugendlicher haben bereits Hörstörungen." Anlässlich des "Tags gegen Lärm" am 30. April appellieren Experten für mehr Bewusstsein. Denn die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen.
"Am häufigsten entstehen Gehörschäden über Jahrzehnte und nicht akut." Auch, weil immer mehr bewusste Lärmpausen fehlen, damit sich das Ohr erholen kann. "Sie sind unabdingbar für die Regeneration des Gehörs", betonen Peter Edlhauser und Franz Zajicek vom Verband der Hörakustiker. Das Ohr eines Lärmarbeiters benötigt etwa nach einem 8-Stunden-Arbeitstag 16 Stunden zur Erholung. "Das geht sich gerade aus bis zum nächsten Arbeitstag - wenn man sich wirklich in Ruhe ausrastet. Das passiert aber durch ständige Beschallung kaum mehr", erklärt Wilhelm Wahler, Lärmexperte der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA).
Die Folgen ständiger Überbelastung - auch bei vergleichsweise moderater Lautstärke ab 80 Dezibel (z. B. ein vorbeifahrender Pkw) - sind irreversible Schädigungen der sensiblen Sinneszellen im Mittel- und Innenohr - und damit chronische Lärmschwerhörigkeit. Arnolder: "Dafür gibt es keine Therapie. Einmal zerstört, können sie nicht wieder ersetzt werden. Der Hörverlust kann lediglich durch Hörgeräte ausgeglichen werden."
Vor allen den sogenannten Freizeitlärm sieht Lärmexperte Wahler als verkanntes Problem von Gesellschaft und Politik. "In den meisten Arbeitsbereichen gibt es gesetzliche Standards zur Lärmvermeidung. Die Auswirkungen von freiwilliger Beschallung auf Körper, Psyche - kurz die Gesundheit und das soziale Verhalten werden nicht berücksichtigt."
Rauschzustand
Die Auswirkungen von zu lauter, aber auch zu langer Lärmeinwirkung auf hormonelle und neuronale Vorgänge im Körper sind zudem eindeutig bewiesen. "Musik bewirkt einen komplizierten Kreislauf aus aktivierenden und beruhigenden Aktivitäten. Das ist wie ein Rauschzustand. Durch Musik steigen unter anderem Herzfrequenz und die Ausschüttung der Hormone Serotonin, Dopamin oder Cortisol", erklärt Univ.-Prof. Erich Vanecek, Begründer der Musikpsychologie in Österreich. Vor allem Jugendliche nutzen diese Effekte als Identifikationsmittel im Sozialisierungsprozess und zur Abgrenzung zu Älteren." Warum gerade sie so häufig die Regler der Wiedergeräte bis zum Anschlag aufdrehen, erklärt der Psychologe als eine Art Befreiungsakt: "Laute Musik ist oft psychischer Selbstschutz, indem innere Zweifel zugedröhnt werden." Also am besten gar keine Musik hören und Stille genießen? Nein, betont Vanecek. "Musik bedarf der Lautstärke. Sie drückt Stimmung aus und wird von Komponisten als Aktivator eingesetzt." Klassik sei aber "gewachsene Musik und berücksichtigt die natürlichen Fähigkeiten des Menschen." So unterbrach etwa Richard Wagner die Dramatik seiner Kompositionen durch eine 45-minütige Pause. Es gehe um das richtige Maß. "Das haben wir heute verloren. Durch unsere technischen Möglichkeiten können wir das natürliche Empfinden gut übertünchen."
Einig sind sich alle Experten übrigens, dass gerade bei der Jugend mit Prävention mehr zu erreichen ist. "Aufklärung ist besser als Verbote", betont AUVA-Experte Wahler. Studien in Volks- und Berufsschulen zeigten: "Wenn Lärm thematisiert wird, gehen Kinder und Jugendliche vernünftig damit um und sind leiser."
Gehörschäden gelten noch immer als häufigste Berufserkrankung. Bei der AUVA registriert man nach einem Rückgang der Gehörgeschädigten in den 1990er-Jahren seit 2006 wieder kontinuierliche Anstiege. Die Zahlen liegen bei jährlich 700 Fällen. Die Gründe dürften einerseits in gestiegener Sensibilität bei Arbeitsmediziner und HNO-Ärzten liegen. Andererseits sieht Lärmexperte Wilhelm Wahler einen Zusammenhang mit der Markteinführung tragbarer Musikplayer wie dem "Walkman" in den 1980er-Jahren. "Wenn man bedenkt, dass sich Hörschäden über 20, 30 Jahre entwickeln, passt das zusammen."