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George Orwells 1984 wieder in den Bestseller-Listen

2017 ist ein gutes Jahr für 1984. George Orwells Dystopie, die fast jeder aus seiner Schulzeit kennt, rangiert wieder ganz oben auf der Bestseller-Liste von Amazon. „1984“ (im Original „Nineteen Eighty-Four“) ist im Jahr 1948 erschienen und schildert die dunkle Vision eines totalitären Überwachungsstaats. Hauptfigur ist Winston Smith, der durschaut, wie das oligarchische System manipuliert und funktioniert. Zentraler Punkt, der das Buch gerade wieder so aktuell mach, dreht sich um das Aufzwingen einer Einheitsmeinung durch die Machthaber – und die Formung der Gedanken und des Bewusstseins durch Realitätskontrolle. Nicht zuletzt dürfte der Begriff „alternative Fakten“, der vor Kurzem durch Donald Trumps Beraterin geprägt wurde, dazu führen, dass sich die Menschen das Buch wieder durchlesen.

Big Brother reloaded

Der wohl berühmteste Satz aus 1984, der sich bis heute gehalten hat, lautet: „Big Brother is Watching you“. In 1984 werden die Menschen von einer Gedankenpolizei überwacht und Menschen, die sich nicht einordnen, verfolgt und schließlich getötet. Offizielle Amtssprache ist „Neusprech“ – eine Sprache, die von der Partei so verändert wurde, damit das Volk kontrolliert werden kann. Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass 1984 wieder im Fokus des Leserinteresses steht: Nachdem enthüllt wurde, dass es ein geheimes US-Spähprogramm gebe, wollten alle die englischssprachige Jubiläumsausgabe – die Nachfrage bei Amazon schoss enorm in die Höhe.

Warnung vor Pseudowissenschaft

Ein weiterer Autor rückt durch seine Aussagen über die Zukunft derzeit in den Fokus. Das in den 1990er-Jahren erschienene Buch „The Demon-Haunted World“ des Astrophysikers Carl Sagan warnte vor den Gefahren von Pseudowissenschaft und ermutigte die Leser zum kritischen Denken und zu Skeptizismus. Folgende Passage erscheint in diesem Licht besonders relevant:

“I have a foreboding of an America in my children's or grandchildren's time -- when the United States is a service and information economy; when nearly all the manufacturing industries have slipped away to other countries; when awesome technological powers are in the hands of a very few, and no one representing the public interest can even grasp the issues; when the people have lost the ability to set their own agendas or knowledgeably question those in authority; when, clutching our crystals and nervously consulting our horoscopes, our critical faculties in decline, unable to distinguish between what feels good and what's true, we slide, almost without noticing, back into superstition and darkness..."

Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke. (George Orwell, „1984“)

Es ist ein bisschen der Einserschmäh, in politischen Diskussionen Orwell zu bemühen. Dessen "1984" ist sowohl ein bedrückender Vorgriff auf eine Informationsdiktatur, als auch eine oftmals missbrauchte Zitateschleuder ("Big Brother is watching you"). Und daher eigentlich zu vermeiden.

Jetzt aber muss es sein.

Denn in den ersten Stunden nach dem Amtsantritt von Donald Trump hat sich der bisherige erbitterte Streit Trumps mit den Medien darüber, was "Fake News" sind, noch einmal auf eine neue Ebene begeben: Eine Trump-Beraterin pochte in einem Interview darauf, dass das, was sie sagte, nicht falsch sei, wie ihr ein Journalist vorhielt – es wären "alternative Fakten".

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Eine Begriffs-Neuschöpfung, die einschlug und schon heißer Kandidat für das Unwort des Jahres ist. Denn der US-Präsident und sein Team möchten nun nicht einfach nur ausstreiten, was eine Falschmeldung ist oder nicht – sie beharren darauf, dass Trumps alternative Sicht der Realität "Fakt" ist. Es hat der verbale Kampf darum begonnen, nicht was richtig, sondern was real ist. Ein gefährlicher Kampf, bekannt aus "1984".

So lacht das Netz über "Alternative Fakten" und "Spicer Facs"

Im Auge

Entbrannt ist der Streit eigentlich an zwei Fotos (siehe Bild oben): Es ging darum, wie viele Menschen bei der Angelobung Trumps vor Ort waren. Laut Trumps Team so viele wie nie zuvor. Der Fotovergleich mit Barack Obamas erster Angelobung legt das Gegenteil nahe, was US-Medien auch schrieben. Dass Trump in den ersten drei Tagen als Präsident viel Zeit darauf verwendete, gegen diese Behauptung – eine scheinbare Kleinigkeit – anzukämpfen, darf nicht verwundern.

Er ergreift damit schlicht eine Gelegenheit, die sich zuvor noch nicht geboten hat: In den unendlichen Weiten der Online-Welt haben viele Menschen das Gefühl dafür verloren, was richtig ist.

Und jene, die ganz tief eingetaucht sind, auch das Gefühl dafür, was wirklich ist.

Diese Menschen von seiner Wahrheit zu überzeugen, würde Trump (und den Politikern in seinem Windschatten) natürlich nützen: Es ist eine weitere Entfremdung, ein weiterer erhobener Mittelfinger demgegenüber, was als Establishment, System oder Mainstream herabgewürdigt wird.

Unverständlich

Man muss sich keine Illusionen machen: Starke politische Überzeugungen entschieden schon immer, was man für real hält. Und zwar in einem Ausmaß, das an Tunnelblick, wenn nicht sogar an geistige Beeinträchtigung grenzt. Die Überzeugungen des anderen sind, wenn sie unverrückbar sind, völlig unverständlich: Dass es etwa ein vorrangiges politisches Ziel sein kann, Menschen die eben erworbene Krankenversicherung wieder wegzunehmen, ist für europäische Leser fast unbegreiflich. Amerikaner aber halten dies für ganz normal. Eine ähnliche Spaltung gibt es auch innerhalb der USA: Die Weltsicht der, grob gesagt, Küstenbewohner und jener in den Staaten dazwischen, auch zwischen Norden und Süden, könnte nicht unterschiedlicher sein. Daraus resultierte auch die allgemeine Überraschung darüber, dass Trump gewählt wurde: Man kann sich nicht einmal innerhalb der USA in den anderen hineinversetzen.

Und die Kunst?

Das kann man übrigens lernen: Insbesondere zwei große Bereiche schulen den Menschen darin, sich in die Realität eines anderen hineinzuversetzen: Das ist die Kunst; und das sind die Geisteswissenschaften.

Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hat in den letzten Tagen seiner Amtszeit in einem grandiosen Appell für die Wichtigkeit der Kultur geschildert, wie überlebensnotwendig für ihn im Weißen Haus das Lesen war. Dadurch konnte er nicht nur entspannen, sondern auch alternative Möglichkeiten des Handelns durchdenken. Für einen Präsidenten, dessen Entscheidungen die ganze Welt betreffen, nicht unerheblich.

Dass Donald Trump ausgerechnet diesen beiden Bereichen die (ohnehin magere) Bundesförderung streichen will, ist kein Zufall. Es geht um einen Wettstreit der Erzählungen, davon, was Amerika ist. Und vor allem: Wie sich seine Größe darstellt. Gerade die US-Literatur und, weltweit noch wichtiger, der Pop haben die Sicht auf die USA bestimmt.

Sie haben "alternative" Amerikas geschaffen, lange bevor das Schlagwort nun die Runde machte. Und darin "Fakten" geboten, an denen sich Geist und Emotion schulen können; gegen Ungerechtigkeit und für Mitgefühl.

Und auch gegen jenes Fakten-Monopol der Mächtigen, das nun in den USA entstehen könnte.

Neue Begriffe: Von "Fake News" zu "alternative Fakten"
  • Die Lügenpresse kennen wir aus der NS-Propaganda. Ihr Kennzeichen: Dem Regime ist sie missliebig, deswegen lügt sie vorgeblich. Der Begriff erlebte ein Revival durch Pegida und AfD.
  • Fake News sind erfundene Nachrichten. Sie prägten den US-Wahlkampf und wurden massenhaft über Hillary Clinton verbreitet. Wobei das Wort „Falschnachrichten“ täuscht: Es handelt sich schlicht um Lügen. Der Begriff wird mittlerweile auch gerne verwendet, um missliebige Stories abzuwerten (der Kreis zur „Lügenpresse“ schließt sich).
  • Alternative Fakten sind nun der Neuzugang: Kellyann Conway, eine Beraterin Trumps, hat ihn geprägt. Hier geht es nicht mehr um richtige oder falsche News, sondern darum, was die Realität ist – und wer darüber bestimmt.