Wenn die Massen zu vermeintlichen Geheimtipps pilgern
Von Simone Hoepke
„Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt man hat die Mittel“, hat Wilhelm Busch vor mehr als 100 Jahren gedichtet. Damals war Reisen ein Privileg der Reichen und Adeligen, seitdem ist kein Stein auf dem anderen geblieben.
Noch nie konnten sich so viele Menschen einen Urlaub leisten wie heute. Der Wohlstand steigt in vielen Regionen der Welt, Billigflieger bauen ihr Streckennetz aus, Veranstalter füllen Überkapazitäten in Bettenburgen und Chartermaschinen mit Sonderangeboten. Auf den Weltmeeren steuern Kreuzfahrtschiffe in der Größe von Gemeindebauten jeden Tag eine andere Stadt an. An Bord wird für jeden Geschmack das Passende geboten – von Single- bis zu Schlager-Touren. Reisen ist eine Milliardenindustrie, Massentourismus ein knallhart kalkuliertes Geschäft.
Einheimische als Exoten
Das weltweite Reiseaufkommen ist heute 72-mal höher ist als noch im Jahr 1950. Im Vorjahr wurden 1,4 Milliarden internationale Ankünfte von Touristen gezählt, bis zum Jahr 2030 sollen es 1,8 Milliarden sein, rechnet die UN-Tourismusorganisation UNWTO vor. Wer zur Hochsaison in Barcelona oder Venedig war, hat eine vage Vorstellung davon, wie viele Menschen das sind. Einheimische werden zu Exoten, von authentischen Erlebnissen keine Spur. Der Frustpegel bei Reisenden und Bereisten steigt, der Ruf nach einer Umleitung der Gästeströme wird laut. Blöd nur, dass sich Touristen nicht so einfach umleiten lassen.
Asiaten, die das erste Mal in Europa sind, wollen partout zum Eiffelturm und Petersdom, von wo sie verlässlich Selfies posten. Nebeneffekt: Der Hype um ohnehin schon überrannte Sehenswürdigkeiten wird angeheizt. Wer Europa in zehn Tagen kennenlernen will – und für mehr reicht der Jahresurlaub der Asiaten nicht aus – bleibt verlässlich auf bereits ausgetretenen Trampelpfaden. Wir Europäer sind übrigens keinen Deut besser. „Wenn wir das erste Mal in Peking sind, wollen wir ja auch die Chinesische Mauer und die Verbotene Stadt sehen – und fliegen nach diesen Programmpunkten vielleicht gleich weiter nach Schanghai“, bringt es Verkehrsbüro-Vorstand Helga Freund auf den Punkt.
Die Einflüsterer sogenannter „Places to be“ kommen verstärkt aus dem Internet, sprich aus den Social Media Kanälen. Davon können die Wirte des Schweizer Berggasthofs Äscher ein Lied singen. Über Generationen ging es dort eher beschaulich zu. Dann kam Ashton Kutcher und postete Bilder der Hütte. Der „Geheimtipp“ mutierte zu einem überrannten Touristen-Mekka, von dem jeder ein Selfie haben wollte. Die Pächter der Hütte haben entnervt das Handtuch geworfen.
Auch das Wiener Café Central wird über Social Media gehypt, genauer gesagt über WeChat, die chinesische Variante von Facebook. 70 Prozent der 568.000 bewirteten Besuchern 2018 waren Touristen. Vor der Eingangstür stehen Warteschlangen, ein Türsteher regelt den Einlass. Die Asiaten stört das Anstehen nicht. Drinnen angekommen posten sie vor dem Sisi-Porträt und mit Kaiserschmarren. Wohl auch, um nicht zum reinen Touristen-Kaffeehaus zu verkommen, haben die Betreiber nun extra eine Frühstückskarte für das Wiener Publikum ausgearbeitet. Morgens sind schließlich noch keine asiatischen Gruppen da – sie frühstücken noch im Hotel.
Touris hinterlassen nur Müll
Der Grad zwischen Fluch und Segen ist ein schmaler und treibt mitunter skurrile Blüten. Das zeigt ein Beispiel aus Florenz. Der Bürgermeister war so genervt von den Touristen, die mittags auf den Kirchenstiegen sitzen und ihre Jause verdrücken. Nur Müll und keinen Cent hinterlassen sie, wetterte der Stadtoberste. Um die ungeliebten Gäste zu vertreiben, ließ er die Stiegen vor Kirchen zur Mittagszeit mit Wasser und Seife besprühen. Nachhaltige Maßnahmen sehen anders aus. Wie genau, darüber debattiert die Branche.
Selbst in Wien warnt Tourismus-Chef Norbert Kettner bereits vor zu vielen Pizza-Buden, vor zu vielen als Mozart verkleideten Ticket-Verkäufern sowie Souvenirläden, die Kitsch verkaufen, den garantiert noch nie ein Einheimischer gekauft hat. Letztlich ergibt das ein billiges Gesamtbild, mit dem immer mehr Städte kämpfen, warnen Experten. In Amsterdam wurden zusätzliche „Nutella-Shops“ – also Läden, die nur auf Touristen abzielen – bereits verboten. „Der Tourist zerstört was er sucht, indem er es findet“, hat der deutsche Schreiber Hans Magnus Enzensberger gesagt. Lange bevor „Overtourism“ ein Begriff war.
Kirche im Dorf lassen
Dennoch muss man die Kirche im Dorf lassen: Das Phänomen ist zeitlich und örtlich begrenzt, zumindest in Österreich. Es lässt sich im Wesentlichen auf drei Namen reduzieren: Hallstatt, Getreidegasse, Stephansplatz. Ein Salzburger Hotelier sagt sogar, dass er die meiste Zeit im Jahr eher an „Undertourism“ als an „Overtourism“ leidet. Sprich, außerhalb der Saison tote Hose ist. Tourismusobfrau Petra Nocker-Schwarzenbacher sieht daher noch Potenzial für zusätzliche Gäste. Allerdings darf sich die Bevölkerung nicht überrannt fühlen. Sprich, die Branche braucht eine Imagepolitur. Viele Täler würden ohne Gäste relativ finster aussehen. So rechnet die Seilbahnwirtschaft vor, dass im Bezirk Landeck (44.000 Einwohner) ohne Tourismus von 17.600 Jobs gerade einmal 3400 übrig bleiben würden.