Vier Jahrzehnte voestalpine: Die stahlharte Karriere des Wolfgang Eder
Heute vor exakt zwölf Jahren, am 16. März 2007, einem Freitag, ist an der Wiener Börse ein ganz normaler Handelstag. Bis knapp vor Börseschluss etwas Seltsames passiert. Der Kurs der Böhler-Aktie steigt plötzlich rapide an. Böhler-Uddeholm ist ein weltweit führender Edel- und Werkzeugstahl-Hersteller mit Sitz in Wien. Erst fünfzehn Jahre zuvor, 1991/1992, war Böhler aus der alten Voest-Alpine herausgelöst und 1995 an die Börse gebracht worden.
Der ungewöhnliche Kurssprung elektrisiert die Börsianer. Allen ist sofort klar, dass sich bei Böhler etwas tut. Auch Wolfgang Eder. Der Chef der voestalpine hat ein unruhiges Wochenende. Schon länger hat der Böhler im Visier. Er führt zahlreiche Telefonate. Am Montag trommelt er sofort die Konzernführung zusammen. Eder und seine Vorstandskollegen beschließen, ein Angebot für Böhler-Uddeholm zu legen.
Geheimhaltung: oberste Priorität
An die Öffentlichkeit dringt von den Absichten der Manager aber nichts. Geheimhaltung hat in so einem Fall oberste Priorität. Eingeweiht sind außer dem Vorstand und einem kleinen internen Arbeitsteam nur der Aufsichtsratsvorsitzende, ein Anwalt und ein Investmentbanker. Böhler ist in den Medien inzwischen Top-Thema. Die österreichischen Böhler-Kernaktionäre rund um einen Anwalt wollen ihr Aktienpaket (etwa ein Fünftel der Anteile) abstoßen. Nicht, weil es Böhler schlecht geht. Im Gegenteil: Die Aktien sind inzwischen Goldes wert. Da liegt es nahe, daraus Cash zu machen.
Ein internationales Finanzunternehmen namens CVC Capital Partners zeigt inzwischen unverhohlenes Interesse an Böhler. Die voestalpine-Manager halten sich aber noch immer bedeckt. Und weil kein Verdacht aufkommen soll, sagt Wolfgang Eder auch in dieser Schlüsselphase eine lang geplante Dienstreise nicht ab. Vom 23. März bis 26. März 2007 befindet sich Eder in New Dheli/Indien.
„Das Wichtigste für Wolfgang Eder ist Vertrauen.“
über den Vorstandschef
Am 27. März fixiert der voestalpine-Vorstand dann die Böhler-Übernahme. Am Freitag den 30. März, vormittags, segnet der Aufsichtsrat die Übernahme ab. Am frühen Nachmittag gibt Eder bei einer Pressekonferenz den Deal gemeinsam mit Böhler-Chef Claus Raidl offiziell bekannt.
Als einer der völlig überraschten Journalisten Eder fragt, wie lange die Planung des Vier-Milliarden-Euro-Deals gedauert habe, antwortet der wahrheitsgemäß: „Zwei Wochen.“
Größter Deal der österreichischen Industriegeschichte
Der größte Deal der österreichischen Industriegeschichte: Eder hat ihn binnen zwei Wochen durchgezogen. Er nennt das „Mut zum Risiko.“ Allerdings war und ist Eder nie ein Hasardeur, noch trifft er seine Entscheidungen alleine. Eder umgibt sich gerne mit engen Vertrauten. „Das Wichtigste für Wolfgang Eder ist Vertrauen“, sagen enge Mitarbeiter.
Für den Chef eines börsenotierten Unternehmens klingt das zunächst ungewöhnlich. Blickt man auf die Geschichte des Wolfgang Eder, wird verständlich, warum für ihn Vertrauen so wichtig ist. Denn Eder hat noch bei der „alten“ Voest-Alpine-AG begonnen. Im Jahr 1978 als junger Jurist. Schon im zweiten Jahr wurde er mit der Koordination der Aufsichtsratsagenden betraut und hat seither alle Aufsichtsratssitzungen persönlich erlebt. Eder kennt also die frühere, verstaatlichte Voest-Alpine von innen wie kaum ein anderer.
Kultur des Misstrauens
Das Klima im staatlichen Moloch Die Voest-Alpine war geprägt von einer Kultur des Misstrauens. Die Führungskräfte waren ihren jeweiligen politischen Funktionären gegenüber verantwortlich. Die Zahlen und das Einmaleins der Betriebswirtschaft spielten da nicht immer die ganz große Rolle. Der alten Voest-Alpine wurde das bekanntlich zum Verhängnis. Mitte der 80er-Jahre war der Konzern de facto am Ende.
"Es muss eine Kultur geben, in der Fehler passieren dürfen. Denn wo gearbeitet wird, passieren nun einmal auch Fehler."
über Unternehmenskultur
Die „Überlebenden“, zu denen auch Eder zählte, versuchten es mit einer neuen Unternehmenskultur: Vertrauen. Eder hat später davon einmal erzählt. „Wir haben uns gesagt, wenn es noch einmal eine Chance gibt, was damals gar nicht so sicher war, dann nur mit einer Mannschaft, wo Vertrauen herrscht. Wo jeder weiß, was seine Rolle ist und wohin wir wollen. Ohne Politik. Und dass es auch eine Kultur geben muss, in der Fehler passieren dürfen, denn wo gearbeitet wird, passieren nun einmal auch Fehler.“
Vertrauen ist Eder deshalb auch wichtiger als formale Hierarchieebenen. Bei großen Vorhaben stellt das Unternehmen spezielle Projektgruppen zusammen, die nichts mit hierarchischen Strukturen zu tun haben. Top-Manager arbeiten dann im Projekt mit Kollegen aus allen Ebenen zusammen. 15 Jahre hat Eder so die voestalpine als Vorstandschef geführt.
Die erste Kultur, die Stahl erzeugte, waren die Hethiter. Ein Volk, das vor rund 3.500 Jahren in der heutigen Türkei lebte. Nach der industriellen Revolution wurde Stahl in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Mythos.
Gelassene Führungskraft
Mit Sicherheit ist Eder keiner, der laut polternd alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das hat damit zu tun, dass Eder – zumindest nach außen – ruhig und gelassen wirkt. Eine Gelassenheit, die mit Wissen zu tun hat. Mitarbeiter, Mitstreiter und selbst Konkurrenten beschreiben ihn als extrem fachkundig. Schließlich gibt es 2.500 Arten von Stahl – und unendlich viele Produkte aus Stahl. In dieser Welt kennt sich Eder aus.
Die erste Kultur, die übrigens Stahl erzeugte, waren die Hethiter. Ein Volk, das vor rund 3.500 Jahren in der heutigen Türkei lebte. Nach der industriellen Revolution wurde Stahl in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Mythos. Stahl galt als Symbol politischer Macht. In Demokratien wie in totalitären Systemen. In Russland nannte sich ein gewisser Josef W. Dschughaschwili sogar „der Stählerne“; Stalin.
Heute ist Stahl ein High-Tech-Produkt. Ein Produkt, das unser Leben, unseren Alltag bestimmt. Vom Essbesteck bis zum Auto. Von der Rasierklinge bis zum Wolkenkratzer. Vom einfachen Werkzeug bis zu Weltraumfähren.
Bei der voestalpine mit Stammsitz in Linz werden Stahlsorten im hochwertigen Bereich erzeugt. So ist man etwa weltweit Marktführer bei den sogenannten „kompletten Bahninfrastruktursystem“. Damit sind Schienen für Hochgeschwindigkeitszüge samt High-Tech-Weichen und digitaler Signaltechnik gemeint.
In den ersten drei Monaten des laufenden Geschäftsjahrs setzte die voestalpine mit ihren weltweit über 51.000 Mitarbeitern zehn Milliarden Euro um. Der Konzern ist in über 50 Ländern auf allen fünf Kontinenten vertreten.
Jahre voller Dramatik
Wolfgang Eder übergibt ein Unternehmen, dessen Geschichte dramatischer nicht sein könnte. Gegründet wird es 1938 von den Nationalsozialisten als Rüstungsbetrieb. Nach dem Krieg übergeben die USA den Betrieb an die Republik Österreich. Ab 1947 erlebt die Vöest einen beständigen Aufschwung. Bis in die 1980er-Jahre als die weltweite Stahlkrise den Konzern voll trifft. Dazu kommen hausgemachte Skandale. Bei einem Anlagenbau-Projekt in den USA werden hunderte Millionen Euro versenkt. Und die Vöest-Tochter Noricum liefert illegal Waffen an die Golfkriegsstaaten Iran und Irak. Die rot-blaue Regierung zieht die Reißleine.
Der alte Riese wird zerschlagen, umgebaut, neu geordnet. Die staatlichen Milliardenspritzen versiegen. Wolfgang Eder ist in diesen Jahren voll dabei. 1995 zieht er in den Vorstand ein. Im selben Jahr geht das Unternehmen mit einem ersten Aktienpaket an die Börse.
2003 beschließt die Schwarz-Blaue Regierung die Voll-Privatisierung. Am 31. August 2005 gibt die Republik ihre letzte Aktie ab. Für Eder, damals gerade eineinhalb Jahre Vorstandsvorsitzender „der schönste Tag“ in seinem beruflichen Leben. Es folgen Jahre der Expansion. Bis Eder noch einmal zeigen muss, wie man eine Krise bewältigt. Nach der Lehmann-Pleite 2008 bleiben über Nacht die Aufträge aus. Eder und seine Vorstandskollegen müssen blitzschnell reagieren. Die Investitionen werden radikal zurückgefahren. Alle Kreditlinien überprüft. Die Auslandschefs werden aus der ganzen Welt fast im Monats-Rhythmus zur Befehlsausgabe nach Linz zitiert.
Ebenfalls im Monatstakt werden Mitarbeiterversammlungen abgehalten. Es gibt Kurzarbeit und Personalkürzungen. Doch während in anderen Konzernen die Wogen hochgehen, läuft die Krise bei der voestalpine geradezu ruhig ab. Eder habe professionelles Leadership gezeigt, so später die Meinung von Aktionären, Analysten, Kunden und auch vormaligen Kritikern.
Aber es gibt auch Niederlagen
Aus Eders Sicht jedenfalls. Das Schienenkartell ist für ihn so eine Niederlage. Zum Schienenkartell, in welchem 2001 bis 2008 Preisabsprachen stattfanden, gehörten neben Vertretern anderer namhafter Stahlkonzerne auch Manager der voestalpine. Eder spricht bis heute von einer „Erschütterung der Vertrauenskultur“.
Obwohl er Teil der österreichischen Industriegeschichte ist, wird Eder nach seinem Abgang keine Memoiren schreiben. Er wolle sich stärker seiner Familie und seinen Hobbys widmen. Ein Hausmensch wird Eder deshalb freilich nicht. Schon im Sommer wird er an die Spitze des Aufsichtsrats des Chipherstellers Infineon rücken. Die Eder-Story geht also weiter.
Zur Person: Wolfgang Eder (geb.: 1952) studierte von 1972 bis 1976 Jus an der Universität Salzburg (Dr. iur. 1976), und war dort ab 1974 auch Studienassistent am Institut für österreichisches und internationales Handels- und Wirtschaftsrecht. Im Jahr 1978 trat er als Experte für Gesellschaftsrecht in die damalige Vöest ein. Dort wurde er 1982 Prokurator und 1988 Bereichsleiter (Recht und Beteiligungen, internationale Beziehungen, Umweltbelange).
Im Dezember 1995 wurde er Mitglied des Vorstandes, im September 2001 dann Stellvertretender Vorstandschef. Am 1. April 2004 übernahm er
die Leitung des nunmehr in voestalpine AG umbenannten Konzerns, die er im Juli abgeben wird.
Aufstieg der voestalpine: 1938 wurde in Linz ein Eisen- und Stahlwerk als Teil der nationalsozialistischen Kriegsindustrie errichtet. 1945 in Vöest umbenannt wurde der Betrieb 1946 an die Republik Österreich übergeben wird. 1952 konnte das Unternehmen erstmals aufzeigen, als es das revolutionäre LD-Verfahren entwickelte.
Dieses wird noch heute in den meisten Stahlwerken auf der Welt eingesetzt. Bis in die Mitte der 1970-er-Jahre erlebte das Unternehmen einen Aufschwung, ehe es von der internationalen Stahlkrise getroffen wurde und hohe Verluste schrieb. Dazu kamen zahlreiche hausgemachte Skandale. 1986 zog der damalige Finanzminister Ferdinand Lacina die Notbremse, es kam zu einer Restrukturierung. Der Konzern wurde in mehrere Teile zerlegt und 1995 teilprivatisiert. 2005 wurde die Privatisierung abgeschlossen.
Danach begann wirtschaftlich ein steiler Aufstieg. Die voestalpine ist heute ein globaler Player mit Werken unter anderem in Deutschland, Brasilien und den USA. Das Unternehmen sieht sich mittlerweile nicht mehr nur als Stahl-, sondern als Technologiekonzern, macht einen Umsatz von 13 Milliarden Euro und hat 51.000 Mitarbeiter.