Verdienen an der Pflege: Das Geschäft mit der 24-Stunden-Betreuung
Von Ornella Wächter
Die Wogen schlagen hoch bei der Diskussion über die Arbeitszeit in der Sozialwirtschaft, in dieser Woche gab es sogar Warnstreiks. Von 125.000 Mitarbeitern in den Gesundheits-, Pflege- und Sozialberufen ist die Rede, die eine Arbeitszeit von 35 Stunden pro Woche fordern. Doch es gibt eine weitere Gruppe von Pflegern, die nicht von KV-Verhandlungen profitiert, deren Leistungen nicht in den Zahlen der Statistik Austria zur Pflege in Österreich auftauchen, und die weit entfernt von 35-Stunden-Wochen sind: die 24-Stunden-Betreuer, die Ältere und Kranke zu Hause pflegen, mit ihnen leben.
Rechtlich ungewöhnliches Konstrukt
Die Betreuer sind fast immer Selbstständige, überwiegend aus Osteuropa, mehr als 90 Prozent Frauen. Rund 62.000 Personenbetreuer sind nach Zahlen der Wirtschaftskammer (WKO) aktiv, die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Das rechtliche Konstrukt, mit dem sie offiziell in Österreich tätig sein können, ist ungewöhnlich.
Die Branche, die sich erst in den vergangenen Jahren aus der fast flächendeckenden Schwarzarbeit löste, ringt um Standards für Betreute und Pfleger. Denn die Nachfrage für eine individuelle Betreuung zu Hause steigt, der Wunsch nach einem Lebensabend in den eigenen vier Wänden ist groß.
Früher Schwarzmarkt, heute legales Gewerbe
Der größte Pflegeaufwand im Land ist kaum zu beziffern – ihn leisten Angehörige zu Hause, meistens Frauen, oft neben der Kinderbetreuung und eigener Erwerbstätigkeit. Eine solche Aufgabe neben einer fordernden Vollzeitstelle übernahm auch Margit Hermentin, als ihre Großmutter pflegebedürftig wurde – bis sie es nicht mehr schaffte.
Sie suchte eine 24-Stunden-Betreuung und erlebte einen nervenaufreibenden Marathon mit halbseidenen Vermittlern, ungeklärten rechtlichen Verhältnissen und der Unsicherheit, ob die Betreuer geeignet und ausgebildet sind. „Ich wollte, dass die Betreuerin versichert ist und auch aus dem Haus gehen kann, sich nicht verstecken muss, wenn der Hausarzt kommt“, erzählt die 49-Jährige.
Als ihre Großmutter starb, verlor Margit Hermentin auch ihre wichtigste Bezugsperson. „Ich bin in ein schwarzes Loch gefallen“, erzählt sie – und nutzte die Krise für einen beruflichen Neuanfang. Hermentin gab einen guten Job im Bereich Investor Relations auf und setzte sich zum beruflichen Ziel, es anderen Angehörigen leichter zu machen, als sie es selbst hatte. Rund zehn Jahre ist das nun her. Die frühere Pflegerin ihrer Großmutter ist heute eine von Hermentins festangestellten Mitarbeitern, ihre Agentur „gutbetreut.at“ vermittelt etwa 450 Personenbetreuer – 90 Prozent davon Frauen, fast alle kommen aus der Slowakei.
„80 Prozent der Tätigkeit ist Personalsuche und -auswahl“
gutbetreut.at
„Der Umsatz steigt permanent, die Nachfrage steigt, ich stelle neue Mitarbeiter ein“, sagt sie. Für die Unternehmerin ist die Vermittlung ein gutes Geschäft – auch wenn ihre Motivation nicht Zahlen, sondern Menschen seien: „Mir sind Qualität und Transparenz wichtig.“ Und das gilt für beide Seiten. „Ich habe zwei Kunden“, sagt die Agentur-Chefin: „Pfleger und Gepflegte.“
Was Hermentin als Angehörige vermisste, das will sie heute besser machen: Mindestens drei Jahre Berufserfahrung und gute Deutschkenntnisse müssen ihre Betreuer mitbringen, von Anfang an regelte sie die Vermittlung in schriftlichen Verträgen, die Betreuer bekämen keine Knebelverträge und die Angehörigen eine transparente Kostenaufstellung.
„80 Prozent der Tätigkeit ist Personalsuche und -auswahl“, sagt Hermentin. Und die werde immer schwieriger, weil der Bedarf steigt. Sie steckt viel Zeit und Herzblut in die Abstimmung von Betreuer und Betreutem – als „Familie auf Zeit“ müsse die Chemie einfach stimmen. „Meine Betreuer sollen das Herz am rechten Fleck haben.“
500 Euro Vermittlungebühr
Hermentins Personenbetreuer zahlen der Agentur 500 Euro pro Jahr für die Vermittlung, die Betreuten knapp 11 Euro pro Monat. Dafür regelt die Agentur die Buchhaltung und bürokratische Abwicklung wie die Verlegung des Nebenwohnsitzes der Betreuer. Ihr Honorar bekommen diese direkt von den Familien der Gepflegten.
Angst vor Konkurrenz hat die Geschäftsführerin nicht – „weil wir die Leute gut behandeln“, wie sie sagt. Und: Der Kuchen sei groß genug. Doch sie rät all jenen ab, die die Goldgräberstimmung in der Branche nutzen wollten: „Viele versuchen sich in diesem Bereich, weil sie glauben, man kann gutes Geld machen. Aber es ist knallharte Arbeit.“
Anspruch, Zuschüsse und Kosten
Österreichweit nehmen laut Pflegevorsorgebericht des Sozialministeriums rund 25.000 Personen eine geförderte 24-Stunden-Betreuung in Anspruch. Damit macht diese Betreuungsform einen Anteil von 5,3 Prozent aller rund 466.000 Pflegegeld-Bezieher (Stand Dezember 2019) aus. Da die Förderung nur bis zu einem Einkommen von 2500 Euro netto gewährt wird, liegt die tatsächliche Zahl der 24-Stunden-Betreuten deutlich höher.
Den monatlichen Zuschuss von 550 Euro zusätzlich zum Pflegegeld gibt es, wenn mindestens Pflegestufe 3 gewährt wurde und zwei selbstständige Betreuungskräfte pflegen, meist abwechselnd im 14-Tages-Rhythmus. Für den Rest müssen Betreute und Angehörige aufkommen – nach einer Beispielrechnung von Margit Hermentin bei Pflegestufe 3 gut 1200 Euro pro Monat, bei höheren Pflegestufen reduziert sich der Eigenbeitrag. Hinzu kommt ein eigenes Zimmer und die Versorgung des Betreuers. Ist 24-Stunden-Pflege ein Luxusprodukt? „Nein“, meint Hermentin, „denn gute Pflege kostet“ – und werde erst relativ spät in Anspruch genommen. Die meisten ihrer Betreuten seien älter als 85.
Dreiecksbeziehung: Vermittler, Pflegekraft, Patient
Möglich ist das Betreuungsmodell nur, weil die Personenbetreuer als Selbstständige keinerlei Kollektivverträgen und damit einhergehenden arbeitsrechtlichen Regelungen unterliegen. Sie haben einen Gewerbeschein für das freie Gewerbe der Personenbetreuung und rechnen als solche theoretisch eigenständig ab.
Da es für Nichtösterreicher schwierig ist, Steuerabgaben und Versicherungsfragen zu klären oder Patienten ausfindig zu machen, entstanden die Vermittlungsagenturen. Sie agieren ebenfalls als eigenständige Unternehmer, die für ihre Leistungen meist sowohl von den Pflegebedürftigen als auch von den Personenbetreuern bezahlt werden.
In den Branchendaten der Wirtschaftskammer werden die derzeit rund 62.000 Betreuer und 826 Vermittler seit 2016 als zwei getrennte Gewerbe angeführt, die einen Kammerbeitrag zwischen 40 und 100 Euro im Jahr zahlen. Den Löwenanteil machen die drei größten Vermittler Hilfswerk, Caritas und Volkshilfe mit jeweils mehr als 1.000 Betreuern aus. Wie viel Umsatz die Branche generiert, wird von der Wirtschaftskammer jedoch nicht ausgewiesen. Der Rechnungshof (RH) geht von rund 660 Millionen privaten und öffentlichen Ausgaben aus.
Seriöse und dubiose Anbieter
Es ist ein florierender Wirtschaftszweig geworden. Früher wurden die Betreuer, die größtenteils aus Ostereuropa kamen und kommen, illegal beschäftigt. 2006 wurde mit einer Novelle des Ausländerbeschäftigungsgesetzes aus dem Schwarzmarkt ein legales Gewerbe. De facto arbeiten die Betreuer aber als Scheinselbstständige. Denn viele sind auf die Vermittlung der Agenturen angewiesen – und noch immer gibt es seriöse und dubiose. Einige haben den Geschäftssitz im Ausland, wo weder österreichisches Recht anwendbar ist, noch österreichische Steuerpflicht gilt.
Medien berichteten immer wieder von Knebelverträgen, Zwang zum Transport im von der Agentur organisierten Sammeltaxi, Abzocke über undurchsichtige Inkasso-Verträge. Für Betreuer und Gepflegte sei oft nicht nachvollziehbar, wie viel Geld die Agentur behält und wie hoch das Honorar der Betreuer ausfällt.
„Die Zertifizierung ist mit relativ hohen Kosten verbunden. Nur weil eine Agentur keine hat, ist sie nicht automatisch schlecht.“
WKO-Fachverband für Personenbetreuung
Diese Vorgehensweise belegte der Verein für Konsumenteninformation 2018 in einer Stichproben-Untersuchung, auch der RH schreibt in einem Bericht zur 24-Stunden-Betreuung von „wiederholten Beschwerden“ über Geschäftspraktiken von Agenturen. Erst seit 2016 gibt es Standes- und Ausübungsregeln für die Zusammenarbeit von Agenturen und Betreuern. Eine verpflichtende Qualitätskontrolle gibt es bislang nicht (siehe Abschnitt weiter unten).
Wachsender Bedarf nach Pflegekräften
Der Markt für die Rund-um-die-Uhr-Betreuung wächst. Der Anteil der über 80-Jährigen soll bis 2030 auf sieben Prozent (aktuell bei 5,5) und bis 2060 auf zwölf Prozent steigen. Gleichzeitig wird eine höhere Frauenerwerbsquote und ein Anstieg der Single-Haushalte erwartet. Die informelle Pflege wird damit zurückgehen, die Nachfrage nach häuslichen Betreuungsangeboten steigen.
Doch im Bereich der 24-Stunden-Pflege herrscht noch viel Intransparenz. Eine flächendeckende Qualitätskontrolle gibt es nicht, den Großteil der Kosten tragen die Betreuten und ihre Familien. Auch die Liste der Kritik des RH ist lang: Das Förderbudget sei zu niedrig, es mangelt an Abstimmung zwischen Bund und Ländern.
Der RH empfiehlt, „das bestehende Qualitätssicherungssystem auszuweiten“ und plädiert für „verpflichtende Hausbesuche durch diplomierte Pflegefachkräfte“. Die gesamte Förderstrategie müsse, etwa im Hinblick auf die Betreuungsqualität, überdacht werden, um eine legale und leistbare Betreuung sicherzustellen, empfiehlt der RH die Prüfung einer „generellen Neugestaltung“. Es gibt viel zu tun in der Pflege.
Gütesiegel für Pflegeagenturen
Seit Mai 2019 können sich Vermittlungsagenturen prüfen lassen, um das Österreichische Qualitätszertifikat für Vermittlungsagenturen in der 24-Stunden-Betreuung (ÖQZ-24) zu bekommen. Entwickelt wurden die Richtlinien vom Sozialministerium, unter Mitwirkung der WKO und großer Träger im Betreuungs-Bereich.
Agenturen bekommen das Zertifikat, wenn sie etwa ausschließlich österreichisches Recht anwenden und den Firmensitz im Inland haben, geprüfte Verträge mit den Personenbetreuern verwenden, nur Betreuer vermitteln, die eine Mindest-Ausbildung zum Heimhelfer bzw. im Umfang von 200 Stunden absolviert oder mehr als sechs Monate Erfahrung in der Pflege haben.
„Es muss mindestens einmal im Quartal eine Qualitätssicherung durch einen Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger geben und einen Notfallplan dafür, wenn ein Betreuer ausfällt“, sagt Johannes Wallner, Vorsitzender des „Vereins zur Förderung der Qualität in der Betreuung älterer Menschen“, der mit der Zertifizierung beauftragt wurde. „Das sorgt für mehr Sicherheit bei Kunden und Betreuern.“
„Das schafft nicht jeder, aber das war auch nicht die Absicht.“
Verein zur Förderung der Qualität in der Betreuung älterer Menschen
Nachdem die Agenturen alle erforderlichen Unterlagen eingereicht haben, prüft ein Gutachter die Einhaltung von Qualitätsstandards – sowohl in der Agentur als auch beim Hausbesuch, im Gespräch mit Klienten, Angehörigen und vermittelten Betreuern.
Das Zertifikat wird für drei Jahre erteilt. Diese Art der Qualitätssicherung ist freiwillig – und kostet die Agentur knapp 3.500 Euro. Kleinere Agenturen können jedoch bis zu 75 Prozent der Zertifizierungskosten von der Wirtschaftskammer erstattet bekommen. „Die Zertifizierung ist relativ umfangreich, wir haben hohe Anforderungen“, sagt Wallner. „Das schafft nicht jeder, aber das war auch nicht die Absicht.“
15 zertifizierte Agenturen von 826
Bis zu einem Jahr kann der Prozess dauern. 15 Agenturen haben das Zertifikat bekommen, 15 weitere wurden bereits geprüft und erhalten ihre Zertifizierung in den kommenden Wochen, ein weiteres Dutzend habe den Prozess begonnen, so Wallner.
Alle zertifizierten Agenturen werden unter oeqz.at/zertifizierte-vermittlungsagenturen veröffentlicht. Ob das Gütesiegeldubiose Anbieter langfristig vom Markt drängen wird? „Es ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Jakob Wild vom Fachverband für Personenbetreuung der Wirtschaftskammer. Ein verpflichtendes Gütesiegel einzuführen, hält er aber nicht für notwendig. „Nur weil eine Agentur kein Gütesiegel hat, ist sie deswegen nicht automatisch schlecht.“ Zudem sei die Personenbetreuung ein freies Gewerbe.
Der Agenturchefin Hermentin wäre eine verpflichtende Qualitätskontrolle lieber als das freiwillige Zertifikat. Und sie geht noch weiter, schlägt eine Einführung von Mystery Shopping in der Branche vor. Denn vieles – den Umgang mit potenziellen Kunden, die Transparenz und Professionalität – könne man bereits durch gezielte Anrufe und Nachfragen bei Agenturen klären. Ein weiterer Hebel sei, so Wallner, die Qualifizierung der Personenbetreuer.
So viel kostet die Pflege
5,2 Prozent der Österreicher beziehen Pflegegeld. Die Gesamtkosten für Pflege aus öffentlicher und privater Hand schätzt der Rechnungshof (RH) für das Jahr 2016 auf 7,9 Milliarden Euro, wobei 3,4 Mrd. für Pflegeheime, 3,1 Mrd. für informelle Pflege, 0,7 für mobile und 0,6 Milliarden Euro für die 24-Stunden-Betreuung ausgegeben werden.
16 Prozent aller Pflegegeld-Bezieher waren stationär untergebracht, etwa in einem Pflegeheim. Mit einem Anteil von 78 Prozent bekam der Großteil der Pflegebedürftigen mobile Pflege von im Schnitt einer Stunde pro Woche.
Im Ländervergleich nahmen in Wien mit 0,6 Prozent am wenigsten Menschen 24-Stunden-Pflege in Anspruch, das Burgenland verzeichnet mit 11,5 Prozent den höchsten Anteil. Gründe könnten die kurzen Wege, kleinen Wohnungen und die gute stationäre Versorgung in Wien sein: Jeder fünfte Pflegebedürftige wird hier stationär betreut, in Niederösterreich ist es nur gut jeder zehnte.
Für die öffentliche Hand ist die 24-Stunden-Pflege eine vergleichsweise günstige Lösung – trotz eines Anstiegs. Während das Fördervolumen 2013 bei 105 Mio. lag, waren es 2018 rund 158 Mio. Euro. Die privaten Ausgaben für 24-Stunden-Betreuung schätzt der RH hingegen auf 500 Mio. Euro.