Angelika Fitz: „Wir brauchen mehr Grün in der Stadt“
KURIER: Wir verbringen derzeit so viel Zeit wie nie in den eigenen vier Wänden. Was lernen wir daraus im Hinblick aufs Wohnen?
Angelika Fitz: Im Zwang zum Daheim-Bleiben muss die Wohnung plötzlich alles können: Sie muss Wohnraum, Büro, Schule und Fitnesscenter zugleich sein. Die Multifunktionalität ist zwar eine alte Fantasie. Man sieht jedoch, dass eine heutige Standardwohnung nicht wie ein Computer-Desktop funktioniert, wo sich verschiedene Fenster einfach übereinander klappen lassen. Hier kommt es zu einer Überbelegung.
Das bedeutet, das Konzept der Multifunktionalität, das stark propagiert wurde, funktioniert nicht?
Je maßgeschneiderter Wohnungen sind, desto weniger flexibler sind sie. Das ist wie bei einem Maßanzug. Wenn man sich selbst verändert, passt der teure Anzug plötzlich nicht mehr und fühlt sich unangenehm an. Damit Wohnungen gut multifunktional genutzt werden können, braucht es flexible Grundrisse. Auch andere Raumhöhen sind ein Thema. Ein gutes Beispiel sind die Gründerzeithäuser in Wien. Hier können Räume leicht als Wohnung oder als Büro oder für eine Kindergruppe genutzt werden. Diese Flexibilität ist auch aus ökologischen Gesichtspunkten positiv: Man muss Gebäude nicht abreißen, sondern kann sie anders nutzen.
Kleine Wohnungen liegen derzeit im Trend. Zeigt sich jetzt, dass unsere Wohnungen in der Praxis viel zu klein sind?
Dass Wohnräume immer kleiner werden, hat vor allem mit der letzten großen Krise, der Finanzkrise 2008 zu tun. Weil viel Geld in den Immobilienmarkt geflossen ist, sind die Bodenpreise und mit ihnen die Wohnungspreise extrem gestiegen. Es geht aber nicht um die Größe per se, sondern um Großzügigkeit und Freiräume. Gerade in der Krise fühlen sich viele Menschen in Einfamilienhäusern wohl, weil sie Grünraum und Nischen zur Aneignung haben. Die Frage ist, wie diese Großzügigkeit im mehrgeschoßigen Wohnbau erreicht werden kann. Ein gutes Beispiel zeigen wir im Sommer in unserer Ausstellung „Europas beste Bauten“. In Bordeaux wurde ein sozialer Wohnbau, der von den Bewohnern auch als „Hasenstall“ bezeichnet wurde, so umgebaut, dass sich jede Wohnung nun wie ein Haus mit Garten anfühlt. Die Fassade wurde geöffnet und Wintergärten davorgestellt. Sie verdoppeln die Wohnfläche und sind gleichzeitig ein klimatischer Puffer.
Wie wichtig sind Grünräume?
Wir brauchen auch in der Stadt mehr Grün, vor allem in den Nachbarschaften fußläufig ums Eck. Das gilt nicht nur jetzt, wo wir viel daheim sind. Gerade ältere Menschen oder Eltern mit kleinen Kindern können nicht weit fahren, um ins Grüne zu kommen. Mehr Grün nahe der Wohnung würde den Menschen und dem Klima guttun. Dazu gehört auch eine Rückeroberung des Straßenraums als Aufenthaltsraum. Die Stadt der kurzen Wege ist sozial und klimatisch wichtiger denn je.
Das AzW konnte viele seiner Themen ins Internet verlagern. Wie gut lässt sich Architektur im Netz vermitteln?
Um diesen aktuellen Moment der Geschichte des Wohnens festzuhalten, können Menschen etwa unter dem Hashtag #WieWirCoronaWohnen ihre Erfahrungen dokumentieren. Ausgewählte Materialien werden dann in die AzW-Sammlung aufgenommen. Außerdem stellen wir in unseren „Architektur-Geschichten“ jeden Tag ein wichtiges Bauwerk im Internet vor. Und unser junges Publikum bekommt Bauanleitungen per Videoclips nachhause geliefert. Aber auch wenn die Resonanz in unseren digitalen Kanälen groß ist, die sinnliche Erfahrung im Ausstellungsraum und die Begegnung mit anderen Besuchern kann nicht ersetzt werden.
Das AzW öffnet Ende Mai wieder. Wie groß ist der wirtschaftliche Schaden?
Wir mussten mitten im Aufbau der Ausstellung über den indischen Architekten Balkrishna Doshi schließen und freuen uns sehr, dass wir diese tolle Ausstellung nun ab Pfingsten zeigen können. Die wirtschaftliche Situation der Kulturbranche ist prekär. Auch wir arbeiten mit einem Drittel Eigendeckung etwa durch Sponsoring und Eintritte.
Das AzW wollte 2020 seinen thematischen Schwerpunkt auf das Thema Bodenverbrauch legen. Bleiben Sie dabei?
Ja, der Bodenverbrauch ist ein Schlüsselthema und wir werden im Herbst eine große Ausstellung dazu machen. Die aktuellen Zahlen von 2019 zeigen, dass der Bodenverbrauch wieder gestiegen ist. Ohne gute Bodenpolitik werden wir keine gute Architektur sowie keine lebenswerten Städte und Dörfer haben.