"Grüne" Technologien? Wie Atomkraft und Gas die EU spalten
Sollen Atomkraft und Gas als klimafreundliche Technologien eingestuft werden? Diese Frage treibt EU-Staaten, Bürger und Aktivisten seit Wochen um. Bis Freitag Mitternacht können die EU-Länder auf einen Entwurf der EU-Kommission dazu reagieren. Hintergrund ist die so genannte Taxonomie, die festlegen soll, welche Geldanlagen als klimafreundlich gelten, um die Klimawende voranzubringen.
Das schlägt die Kommission vor:
Konkret schlägt die Kommission vor, dass Investitionen in neue Atomkraftwerke als grün klassifiziert werden können, wenn sie neuesten Standards entsprechen und ein Plan für die Lagerung radioaktiven Mülls bis 2050 vorgelegt wird. Auch Investitionen in neue Gaskraftwerke sollen unter Auflagen übergangsweise als klimafreundlich gelten können. Umweltschützer kritisieren die Pläne scharf. Nach dem Feedback der Mitgliedstaaten wird die Kommission einen offiziellen Vorschlag machen, der nur durch eine Mehrheit von mindestens 20 Staaten oder im EU-Parlament abgelehnt werden kann. Eine Tendenz zeichnet sich bereits ab. Ein Überblick:
Die Befürworter des Vorschlags:
FRANKREICH ist mit dem Vorschlag der EU-Kommission zufrieden. Paris hat sich monatelang dafür eingesetzt, Kernkraft in die Taxonomie aufzunehmen - und hätte nach Angaben des Wirtschaftsministeriums auch nichts anderes akzeptiert. Frankreich ist laut der Internationalen Atomenergiebehörde weltweit hinter den USA und China der drittgrößte Atomstromproduzent. Das Land will in den kommenden Jahren neue Meiler bauen und erhofft sich durch die Taxonomie zusätzliche Investitionen.
SCHWEDEN ist der Meinung, dass Atomkraft in die Taxonomie aufgenommen werden kann. Trotzdem will das Land, das mehrere Atomkraftwerke nutzt, Nachbesserungen des Vorschlags - etwa bei der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Auch das benachbarte FINNLAND setzt auf Atomkraft, um seine CO2-Emissionen zu verringern und will Kernkraft in die Taxonomie mit aufnehmen.
POLENS Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte mehrfach eine umweltfreundliche Einstufung für Atomkraft und Gas und vertritt den Vorschlag entsprechend lautstark. Das Land hat bisher keine Atomkraftwerke, setzt aber auf Kernkraft, um den Ausstieg aus der Kohle zu schaffen. Spätestens 2026 soll der Bau des ersten Reaktors beginnen, bis 2043 sollen fünf weitere folgen.
TSCHECHIEN will den Anteil der Atomkraft am Strommix bis 2040 auf mehr als die Hälfte erhöhen. Ministerpräsident Petr Fiala sagte, die EU-Pläne zur Einstufung der Atomkraft seien entscheidend für die energetische Unabhängigkeit Tschechiens. Auch die benachbarte SLOWAKEI befürwortet die Pläne ausdrücklich. Das Land deckt die Hälfte seines Strombedarfs aus seinen beiden Atomkraftwerken in Jaslovske Bohunice und Mochovce. In Mochovce soll noch in diesem Jahr ein weiterer Reaktorblock in Betrieb gehen.
UNGARN forderte die Anerkennung von Atomkraft und Gas als "grüne" Energiequellen schon vor dem Kommissionsvorschlag zur Taxonomie. Ungarn betreibt ein Atomkraftwerk, der Bau zwei weiterer Blöcke durch die russische Rosatom ist schon vereinbart. Darüber hinaus nutzt Ungarn Gaskraftwerke für die Energiegewinnung.
SLOWENIEN und KROATIEN sind deutliche Befürworter des Vorschlags. Die Länder betreiben zusammen das Atomkraftwerk Krsko. Vage Pläne für einen weiteren Reaktor dort könnten durch die Taxonomie-Entscheidung neuen Rückenwind erhalten. Auch im ärmsten EU-Land BULGARIEN, das ein Atomkraftwerk betreibt, könnten Projekte für neue Kraftwerke mit Russland, die bisher wegen fehlender Finanzierung abgesagt wurden, durch die Taxonomie wiederbelebt werden.
RUMÄNIEN hatte explizit bei der EU-Kommission beantragt, Nuklearenergie und Gas in die Taxonomie aufzunehmen. Das Land mit Dutzenden Gas-Wärmekraftwerken und einem Atomkraftwerk will weitere Reaktoren bauen, unter anderem mit Unterstützung der USA.
Die Gegner des Vorschlags:
ÖSTERREICH hat bereits vor der Vorlage des Entwurfs lautstark gegen die Pläne protestiert. Umweltministerin Leonore Gewessler hat mit einer Klage gedroht, sollte die Taxonomie wie geplant umgesetzt werden. Diese Position spiegelt die öffentliche Meinung in Österreich wider, dort ging selbst das einzige Atomkraftwerk des Landes nach einer Volksabstimmung in den 1970er Jahren nie in Betrieb. Auch LUXEMBURG prüft eine Klage gegen den Vorschlag.
SPANIEN lehnt die Einstufung von Atomkraft und Gas als klimafreundlich ab. "Das macht keinen Sinn und setzt falsche Signale für die Energiewende in der EU insgesamt", sagt Umweltministerin Teresa Ribera. Auch PORTUGAL hat sich besonders gegen ein grünes Label für Kernkraft ausgesprochen.
DÄNEMARK lehnt den Vorschlag ebenfalls ab. Das Land gilt bei den erneuerbaren Energien und vor allem bei der Windenergie als weltweiter Vorreiter, Atomkraft wird nicht als Alternative angesehen.
Die Unentschiedenen:
DEUTSCHLAND hat gemischte Signale zum Taxonomie-Vorschlag gesendet. Die Bundesregierung hat sich zwar geschlossen gegen eine Aufnahme der Atomkraft positioniert, bei Gas scheint die Ampel-Koalition jedoch uneins. Regierungssprecher Steffen Hebestreit sagte, die vorgeschlagenen Kriterien zu Gaskraftwerken stünden "im Einklang mit der Position der Bundesregierung". Deutschlands Umweltministerin Steffi Lemke sagte hingegen: "Erdgas hätte es in der Taxonomie nicht gebraucht." Wie die Bundesregierung abstimmen wird, bleibt daher offen - denn wenn der Entwurf der Kommission finalisiert wurde, kann er nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden.
BELGIEN hat sich noch nicht konkret geäußert. Das Land plant den Ausstieg aus der Atomkraft bis 2025, es wird jedoch debattiert, einige Kraftwerke zu modernisieren und weiterlaufen zu lassen. Die NIEDERLANDE sind unterdessen dagegen, dass Gas in der Taxonomie als nachhaltig eingestuft wird. Premierminister Mark Rutte will aus dem Gas aussteigen, dafür aber neue Kernkraftwerke bauen.
ITALIEN hat bisher keine öffentliche Position bezogen. Der Minister für den ökologischen Übergang, Roberto Cingolani, gilt jedoch als Verfechter der Atomenergie, obwohl das Land seit Jahren aus der Kernkraft ausgestiegen ist. Gas gilt als wichtiger Energieträger für die Übergangsphase.
GRIECHENLANDS Regierungschef Kyriakos Mitsotakis hat klargestellt, dass das Land aufgrund der Erdbeben-Gefahr nie in die Nuklearenergie einsteigen werde. Dafür will es Gas so viel wie möglich nutzen. Unterirdische und schwimmende Speicher und ein Ausbau von verschiedenen Mittelmeerpipelines sind geplant, unter anderem nach ZYPERN. Der Inselstaat hat ebenfalls keine Atomprojekte, arbeitet jedoch eng mit Israel und Ägypten an einer gemeinsamen Förderung von Erdgas, das dann durch die neue Pipeline gepumpt werden könnte.