Deutsche Industrie-Ikone: Volkswagen-Krise verschärft Standortdebatte
Von Michael Bachner
Die Ankündigung von Werksschließungen und Kündigungen bei Volkswagen trifft für den deutschen Top-Ökonomen Marcel Fratzscher einen Nerv in Deutschland. „Kaum ein Unternehmen ist ein so starkes Symbol für das Wirtschaftswunder, den großen Wohlstand und die globale Reputation von Produkten 'Made in Germany' wie Volkswagen“, sagt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Die Stärke von Konzernen wie VW, die es unbedingt zu erhalten gilt, sei die hohe Innovationsfähigkeit, von der die gesamte Wirtschaft profitiert habe.
Am Mittwoch findet bei Volkswagen die zweite Verhandlungsrunde für einen neuen Haus-Tarifvertrag für 120.000 Beschäftigte statt. Gleichzeitig laufen die Tarifvertragsverhandlungen für die gesamte Metallindustrie in Deutschland mit mehr als drei Millionen Beschäftigten – und die Themen überschneiden sich. Erschwerend kommt hinzu, dass auf Geheiß der Gewerkschaft IG Metall seit Dienstag Warnstreiks in Werken deutscher Autohersteller stattfinden, auch bei VW.
Die Arbeitnehmer fordern sieben Prozent mehr, die Arbeitgeber der Metallindustrie haben bisher 3,6 Prozent in zwei Schritten angeboten. Speziell bei VW will der Vorstand auch von den 3,6 Prozent nichts wissen. In Wolfsburg ist vielmehr von Lohnkürzungen und Nulllohnrunden die Rede.
Transformation
Noch bei der Bilanzpräsentation Mitte März klang das anders. Nach Rekordwerten bei Umsatz (322,3 Milliarden Euro) und Gewinn (17,9 Milliarden) sagte VW-Chef Oliver Blume unter anderem: „In 2023 haben wir uns eine gute Basis erarbeitet. Die Volkswagen Group geht aus einer Position der Stärke in das Langstreckenrennen der Transformation.“
Fast acht Monate später ist nur noch von der ernsten Lage, den hohen Personal- und Standortkosten in Deutschland, den viel zu teuren Werken die Rede. VW-Personalvorstand Gunnar Kilian sagt: „Ohne umfassende Maßnahmen zur Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit werden wir uns wesentliche Zukunftsinvestitionen nicht leisten können.“
Standortfrage
Die Situation bei VW kann nach Ansicht von Experten der Beginn einer ganz neuen Debatte über den Wirtschaftsstandort Deutschland werden. Die Politik wird massiv gefordert sein, denn der Umbau zur Elektromobilität werde in den kommenden zehn Jahren in der deutschen Autobranche weitere 140.000 Arbeitsplätze kosten. Betroffen seien zahlreiche Berufe, etwa in der Metallbearbeitung oder im Maschinenbau, sagt der Auto-Branchenverband VDA anhand einer neuen Prognos-Studie. Seit 2019 seien schon etwa 46.000 Arbeitsplätze gestrichen worden. „Die Transformation unserer Industrie ist eine Mammutaufgabe“, so VDA-Präsidentin Hildegard Müller. Mehr als jedes dritte Unternehmen plane eine Investitionsverlagerung ins Ausland. „Positive Standortsignale sind jetzt entscheidend, um zu zeigen, dass hier nicht nur die perfekte Vergangenheit war, sondern auch Neues entstehen kann, sagt die Branchensprecherin.
„Die wirtschaftliche Stagnation in Deutschland, fehlende Nachfrage und hohe Kosten führen dazu, dass die Unternehmen mehr im Ausland investieren“, meint auch Deloitte-Chefökonom Alexander Börsch. Der Berater hat 185 Finanzvorstände großer Unternehmen befragt. 74 Prozent der Befragten aus den Kernindustrien Automobil, Chemie und Maschinenbau sehen ihren Investitionsschwerpunkt heute noch in Deutschland, mit Blick auf die nächsten fünf Jahre aber nur noch 54 Prozent.