Boehringer-Ingelheim-Chef für Export-Verbote bei Medikamenten
Von Anita Staudacher
Es ist das aktuell heißeste Thema in der Pharmabranche: Medikamente fehlen, weil Händler Pillen zwischen EU-Ländern hin- und herschicken. Sie kaufen dort ein, wo es billig ist, und verkaufen woanders zu einem besseren Preis. Ganz legal. Philipp von Lattorff, Generaldirektor von Boehringer Ingelheim RCV, spricht sich im KURIER-Interview für Schranken im freien EU-Warenverkehr aus. Der Pharmakonzern baut gerade seinen Produktionsstandort in Wien groß aus und will 2021 den Weltmarkt beliefern.
KURIER: Zuletzt häufen sich die Medikamenten-Engpässe auch in Österreich. Was tut Boehringer Ingelheim dagegen?
Philipp von Lattorff: Man muss zwischen Liefer- und Versorgungsengpässen unterscheiden. Lieferengpässe entstehen durch die Zentralisierung der Wirkstoff-Produktion vor allem in Asien. Das Problem nimmt bei etablierten Wirkstoffen zu, neue sind weniger betroffen. Ein großer Teil der Engpässe wird aber durch den freien Warenverkehr innerhalb der EU hervorgerufen. Arzneimittel werden vielfach in jene Länder verkauft, wo sie den höchsten Gewinn erzielen. Und in Österreich sind die Preise niedriger als etwa in Deutschland oder den nordischen Ländern.
Sie sprechen den Parallelhandel von Arzneien innerhalb der EU an, der meist über mehrere Zwischenhändler läuft...
Ja, wir bei Boehringer Ingelheim produzieren eine bestimmte Menge an Medikamenten für Österreich und liefern sie nach Österreich. Wenn diese Ware dann nach Deutschland weiterverkauft wird, fehlt sie für die Versorgung der Patienten in Österreich. Es ist für mich unverständlich, warum die EU das zulässt. Da haben nur die Parallelhändler einen Vorteil, sonst niemand. Wir als Hersteller haben Schwierigkeiten, die Versorgung der Patienten mit unseren Arzneien sicherzustellen, obwohl es unser Auftrag wäre.
Soll es ein Export-Verbot für Medikamente geben?
Die EU soll das den Mitgliedsstaaten nahelegen. Diese könnten das dann national beschließen. In der Slowakei gibt es ein solches, in Tschechien zumindest temporär bei Engpässen. Es gibt viele Möglichkeiten, die Versorgung zu gewährleisten. Auch in Österreich könnte man bei bestimmten Medikamenten zur Sicherstellung der Patientenversorgung in Österreich ein Export-Verbot verhängen. Man könnte natürlich auch die Preise entsprechend der Kaufkraft im EU-Vergleich anheben, dann wäre das Problem auch gelöst.
Manche Pharmafirmen umgehen inzwischen den Handel und vertreiben ihre Produkte direkt. Eine Lösung?
Eine sehr kurzfristige, punktuelle Lösung, aber keine generelle. Das betrifft auch nur eine geringe Anzahl an Spezialprodukten.
Es gibt auch den Ruf nach mehr Pharmaproduktion in Europa. Boehringer errichtet gerade eine neue biopharmazeutische Produktionsanlage in Wien. Was bedeutet das 700-Mio.-Investment für den Standort?
Extrem viel. Wir sind die einzige Niederlassung im Konzern, die dann Biopharmazeutika mithilfe zweier verschiedener Technologien produziert: auf mikrobieller Basis (Bakterien und Hefen) sowie in der neuen Anlage mit Hilfe von Zellkulturen. Wir werden hier in Wien für den Weltmarkt produzieren. Die Produktionskapazität dürfte sich daher auf alle Fälle verdoppeln. 18 der Top-20-Pharmafirmen haben bereits Aufträge platziert. Derzeit sind 50 Prozent der Kapazitäten für Boehringer, 50 Prozent für externe Kunden vorgesehen.
Wie kann eine Pharmaproduktion in Wien am Weltmarkt bestehen?
Indem wir hier mit Hochtechnologie produzieren und versuchen, mit Qualität und Know-how zu punkten. In Billiglohnländern werden häufig Substanzen produziert, die schon viele Jahre am Markt sind und in großen Mengen benötigt werden.
Die neue Produktion soll schon Anfang 2021 in Betrieb gehen. Wie gehen die Arbeiten voran?
Wir haben im Augenblick 1400 Menschen auf der Baustelle, es läuft alles nach Plan. Und das, obwohl der Zeitplan für den Neubau schon sehr ambitioniert war. Wien musste sich ja gegen andere Standorte durchsetzen. Alle Behörden haben innerhalb der Minimumfristen die Bescheide erlassen, das hat bestens funktioniert. Jetzt kommt noch der Innenausbau und die Freigabe der Anlage durch die Arzneimittelbehörden. Das sollte Ende 2020 abgeschlossen sein, damit wir wie geplant 2021 starten können. Unsere Auftragsbücher sind voll.
Sie wollen 500 zusätzliche Mitarbeiter aufnehmen. Wie viele haben Sie schon gefunden?
Von den 500 geplanten haben wir bereits rund 300 eingestellt. Auch hier sind wir im Zeitplan. Heuer sollen mehr als 100 dazukommen.
Stößt der Standort nach der Erweiterung an seine Kapazitätsgrenzen?
Nein, wir haben bereits weitere Grundstücke ins Werksgelände integriert und auch auf den bestehenden Flächen ist noch viel Platz.
Wien ist zentrales Krebsforschungszentrum von Boehringer Ingelheim. Wann ist mit neuen Therapien zu rechnen? Die frühe Pipeline ist sehr gut gefüllt. Um ein erfolgreiches Präparat auf den Markt zu bringen, braucht es aber einen langen Atem. Ich erwarte frühestens 2023/24 neue Präparate aus Wien auf den Markt.
Boehringer Ingelheim vermeldete zuletzt große Umsatzzuwächse im Diabetesgeschäft. Wächst der Markt auch in Österreich?
Ja, sehr stark sogar. Hier haben wir in den vergangenen Jahren ein wahres Feuerwerk an neuen Produkten gezündet.
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Philipp von Lattorff (51) leitet seit 2013 das Regional Center Vienna (RCV) von Boehringer Ingelheim und trägt die Verantwortung für 33 Länder in Zentral/Osteuropa inkl. Israel.
Wien ist Zentrum für Krebsforschung und wichtigster Standort für die Produktion von Biopharmazeutika. 2018 stiegen die Gesamterlöse in der Region um 7,2 Prozent auf 897,7 Mio. Euro, in Österreich um 9,5 Prozent auf 102,9 Mio. Euro. Es werden knapp 3500 Mitarbeiter beschäftigt, davon 1833 in Wien.
Boehringer Ingelheim zählt zu den größten Arzneimittelforschern und -herstellern weltweit. Die Schwerpunkte des 1885 in Ingelheim/Deutschland gegründeten Unternehmens in Familienbesitz sind dieArzneimittelforschung sowie die Entwicklung, Produktion und der Vertrieb neuer Medikamente mit hohem therapeutischem Nutzen für die Humanmedizin und die Tiergesundheit. 2018 wurden 17,5 Mrd. Euro umgesetzt, bereinigt um Währungs- und Einmaleffekte ergab sich ein Plus von 4 Prozent gegenüber 2017. Die Ausgaben für F&E stiegen um 2,8 Prozent auf 3,2 Mrd. Euro.